nd-aktuell.de / 15.09.2025 / Kultur

»Der Schlager war ein gesellschaftlicher Seismograf«

Der Schlager ist konservativ, bieder und reaktionär? Der Journalist Wolf Kampmann hält in seinem neuen Buch »Zeig mir den Platz an der Sonne« dagegen

Interview: Luca Glenzer
Die ganze soziale Dramatik eines Lebens in einem Text: Juliane Werdings »Am Tag, als Conny Kramer starb« (1972).
Die ganze soziale Dramatik eines Lebens in einem Text: Juliane Werdings »Am Tag, als Conny Kramer starb« (1972).

Herr Kampmann, was ist Schlager[1]?

Ich habe versucht, im Buch eine sehr persönliche Schlager-Definition zu finden. Ich habe nicht versucht, zu sagen, was Schlager im Allgemeinen, sondern was er für mich persönlich ist. In erster Linie verstehe ich darunter ein musikalisches Phänomen im deutschsprachigen Raum, das bis circa 1984 angedauert hat …

… dem Jahr, als die sogenannte Neue Deutsche Welle ihr Ende fand …

Richtig. Alles, was danach kam, hat mit meinem Schlager nichts mehr zu tun.

Inwiefern?

Schlager vor 1984 hatte eine völlig andere Funktion als nach 1984. Bis dahin war der Schlager oftmals eine Art gesellschaftlicher Seismograf. Und zwar von den 1920er Jahren mitsamt ihren Paul-Linke-Operetten bis in die 1970er Jahre hinein. Ganz deutlich wird das im Nachkriegsschlager der Bundesrepublik, der in vielfacher Hinsicht zahlreiche gesellschaftliche Themen vorweggenommen hat.

Sie argumentieren in Ihrem Buch, dass der Schlager dieser Zeit entgegen der landläufigen Auffassung nicht überwiegend konservativ, sondern vielfach progressiv und subversiv war.

Genau. Natürlich wurde auf der einen Seite oftmals eine etwas verkitschte, heile Welt besungen. Aber wenn man etwas genauer hinhört, merkt man, dass es in vielen damals populären Stücken um politische Themen ging: sei es die Emanzipation der Frau, sexuelle Befreiung, Integration von Gastarbeitern, Konsumkritik oder Gentrifizierung. Das fand ich erstaunlich.

Haben Sie ein Beispiel dafür?

Das Lied »Die süßesten Früchte (Fressen nur die großen Tiere)« von Peter Alexander etwa richtet sich gegen den Raubtierkapitalismus. Oder das Album »In tiefer Trauer« von Juliane Werding, das ein unglaublich starkes Statement der Gegenkultur ist. Es gibt viele solche Beispiele.

Und all das hat dann 1984 einfach aufgehört?

Jedenfalls weitestgehend. Danach verkam der Schlager weitestgehend zu Herzschmerz- und Partymusik. Wenn ich mir heute etwa Helene Fischer anschaue – die ist für mich ein Android. Eine perfektionierte, makellose Schlagermaschine, deren Unterschied zu einer aalglatten Band wie Rammstein wirklich nur graduell ist. Das unterscheidet sie grundlegend von früheren Schlagerstars, die oft irgendwelche Makel, nicht selten sogar etwas Komisches hatten. Ein weiterer Grund, warum ich das Jahr 1984 als Scheitelpunkt für den Schlager betrachte: Damals schied Dieter Thomas Heck als jahrelanges Gesicht der Sendung aus der ZDF-Hitparade aus.

Und Heck soll das Gesicht des progressiven Schlagers gewesen sein? Er war doch ein bekennender Konservativer!

Nein, er war SPD-Wähler, zumindest lange Zeit seines Lebens. Er hat später zwar Wahlkampf für die CDU gemacht und war ein enger Freund von Rainer Barzel (früherer Kanzlerkandidat der Union; Anm. d. Verf.), aber zu Zeiten Willy Brandts stand er der Sozialdemokratie nahe.

Sie führen im Buch auch die Multikulturalität des westdeutschen Schlagers mit Stars wie Roberto Blanco oder Costa Cordalis als Ausdruck seiner Toleranz und Weltoffenheit an. Muss man aber aus heutiger Sicht nicht konstatieren, dass die von ihnen vermittelten Bilder des »freundlichen Exoten« zumeist oberflächlich und verkitscht waren – und damit letztlich nichts weiter als ein von Stereotypen geprägter, biederer Exotismus?

Kitschig war der Schlager in jedem Fall – aber das war die deutsche Kultur generell schon immer. Im Buch führe ich einige Gedichtzeilen etwa von Goethe an, die wahrscheinlich selbst für den Schlager zu kitschig gewesen wären. Und natürlich hat der Schlager in vielfacher Weise Klischees bedient. So what? Anders als in anderen Genres, die nahezu komplett weiß und männlich geblieben sind, war der Schlager von Anfang an sehr international. Mindestens die Hälfte aller erfolgreichen Schlagerstars kam aus dem Ausland. Und das zentrale Gesicht des deutschen Schlagers der Siebziger, Chris Roberts, war ein Staatenloser. Auch wenn ihre Vermarktung oft klischeebeladen und verkitscht war, war es inmitten der deutschen Nachkriegsgesellschaft doch ein wichtiges Zeichen der Sichtbarkeit anderer Lebenskulturen.

Sie haben den Schlager eingangs als etwas genuin Deutsches bezeichnet. Können Sie das noch mal genauer erläutern?

Alles, was nach 1945 auf Deutsch gesungen wurde, galt automatisch als Schlager. Das hängt mit der damals beginnenden Popularisierung der US-amerikanischen Populärkultur wie etwa dem Rock’n’Roll zusammen. Wenn man sich heute einen Song wie »Ich sprenge alle Ketten« von Ricky Shayne anhört, mitsamt der schreienden E-Gitarre und einem Sänger, der förmlich explodiert und wie von Sinnen »Nein, Nein, Nein, Nein, Nein« schreit, dann würde man sagen: Das ist deutschsprachige Rockmusik. Aber damals war es eben Schlager.

Der Schlager polarisiert heute wie kaum ein anderes Genre. Dazu schreiben Sie im Buch: »Der konsequente Schlagerhasser braucht den Schlager genauso wie der passionierte Schlagerfan«. Haben Sie eine Erklärung dafür?

Ja, es hat viel damit zu tun, dass man nicht genau hinhört. Aber man muss auch genau schauen: Was wird unter dem Begriff verstanden? Geht es um Ballermann, DJ Ötzi, Helene Fischer oder eben den Schlager der Sechzigerjahre? Wenn ich meinen Studierenden heute – die privat überwiegend elektronische Musik hören – einen Song wie »Griechischer Wein« von Udo Jürgens zeige, dann sagen sie plötzlich: Das ist doch kein Schlager, das ist einfach ein tolles Lied. Generell glaube ich: Wenn wir etwas lieben, brauchen wir auch immer eine Art Gegengewicht dazu. Mag ich Techno, kann ich Schlager nicht mögen.

Sie selbst sind bekannt geworden als Jazz-Journalist und haben den Schlager nach anfänglicher Liebe in ihrer Kindheit lange verschmäht und erst spät wiederentdeckt.

Das stimmt. Vielleicht bin ich auch ein Schlagerliebhaber und -hasser in einer Person.

Haben Sie ein Gefühl dafür, warum sich der 15-jährige Wolf Kampmann zunächst vom Schlager abgewendet hat?

Das hing mit meinem gesellschaftlichen Umfeld zusammen. Ich glaube, das ist ein durchaus normaler Prozess als Jugendlicher, dass man permanent Neues entdeckt und dann vorübergehend mit den Dingen von vorher nichts mehr zu tun haben möchte. Ähnliches beobachte ich auch bei meinen Kindern. Insofern wollte ich als Teenager, als ich The Doors, Deep Purple und Black Sabbath entdeckt habe, nichts mehr mit Howard Carpendale zu tun haben.

Aufgewachsen sind Sie in der DDR, wurden dort jedoch mit der eingangs erwähnten, von Dieter Thomas Heck moderierten ZDF-Hitparade musikalisch sozialisiert. Dabei gab es auch in der DDR eine blühende Schlagerszene, die im Buch jedoch deutlich kürzer kommt. Warum?

Das Buch ist ja bewusst kein Kompendium des deutschen Schlagers. Mein Eindruck ist, dass der westdeutsche Schlager eine ganz andere politische und soziale Relevanz hatte. Wer in der DDR Kunst mit politischer Relevanz machen wollte, konnte dies ja bloß im Windschatten der SED machen. Mich haben die lyrischen Ergüsse von Schlagertextern wie Hartmut König oder Kurt Demmler, die im Übrigen nicht nur für Schlagerstars, sondern auch für Rockbands wie Puhdys oder Karat geschrieben haben, meist gelangweilt. Hinzu kommt aber auch: Ich habe mich im Zuge der Recherche tatsächlich auf die Suche nach Literatur über den DDR-Schlager begeben – musste dann aber feststellen, dass es kaum welche gibt.

Ihr Buch haben Sie Peter Brötzmann gewidmet, einer Ikone des Free Jazz. Ist das eine ironische Distanzierung vom Schlager durch die Hintertür oder eine besondere Form der Dialektik?

Weder noch. Es ist genau das, was es ist: eine Widmung – zu der es allerdings eine kleine Hintergrundgeschichte gibt. Denn wenige Tage vor Brötzmanns Tod im Jahr 2023 habe ich ein letztes Interview mit ihm geführt. Zum Ende des Gesprächs habe ich dann meinen Mut zusammengenommen und gesagt: Peter, sei doch mal ehrlich, im Herzen bist du doch ein Romantiker.

Und was hat er geantwortet?

Seine Antwort war: Ich bin überhaupt der letzte Romantiker. Ich habe mich sehr zusammengerissen, als er das gesagt hat. Aber hinterher habe ich geweint. Und als mein Lektor dann später meinte, es bräuchte noch eine Widmung für das Buch, musste ich keine Sekunde überlegen.

Wolf Kampmann: Zeig mir den Platz an der Sonne, Osburg Verlag, 320 S., brosch., 24 €.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1186173.schlager-gefuehle-ohne-schweigepflicht.html?sstr=schlager