nd-aktuell.de / 15.09.2025 / Berlin

Eine Portion Pho Bo bei Thanh Koch

Die größte vietnamesische Community Deutschlands lebt im Berliner Bezirk Lichtenberg

Andreas Fritsche
Im Đong-Xuân-Großhandelszentrum
Im Đong-Xuân-Großhandelszentrum

Das Wort »Eingang« steht in verschiedenen Sprachen an dem Hochhaus im Berliner Bezirk Lichtenberg. Es ist ein Asylheim. Auch »Loi vào« steht dort geschrieben. Das ist Vietnamesisch und heißt wörtlich übersetzt: »Der Weg zum Eintreten.« 339 000 Vietnamesen leben in Deutschland, 36 000 in Berlin und allein 12 500 in Lichtenberg. In diesem Bezirk wohnen so viele Vietnamesen wie nirgendwo anders[1] in der Bundesrepublik. Es kommen immer noch Flüchtlinge dazu. In dem Asylheim sind vor allem schwangere Frauen untergeschlüpft, die sich zuvor illegal im Land aufgehalten haben, als Schwangere aber nicht mehr abgeschoben werden dürfen. Sobald das Kind geboren ist, ziehen sie schnell wieder aus. Vietnamesische Zuwanderer sind bekannt dafür, sich schnell und gut zu integrieren.

So erzählt es die Journalistin Marina Mai. Sie war mit einem Vietnamesen verheiratet, hat daher verwandtschaftliche Beziehungen in das südostasiatische Land, spricht auch ein paar Brocken Vietnamesisch. »Ich bin als Quereinsteigerin über vietnamesische Themen in den Journalismus gekommen«, erzählt Marina Mai. Sie gehörte zur vietnamesischen Redaktion des 2008 aus Kostengründen eingestellten Radios Multikulti, sie schrieb und schreibt für die Tageszeitungen »Taz« und »nd«.

2011 bot Marina Mai schon einmal Radtouren durch das vietnamesische Lichtenberg an – bis alle teilgenommen hatten, die sich dafür interessierten. Vergangenes Jahr fing Mai wieder damit an. Eine junge Generation von Menschen mit vietnamesischen Wurzeln war nachgewachsen und möchte jetzt etwas erfahren über die Geschichte ihrer Landsleute in der Hauptstadt. Aber auch Deutsche aus Ost und West melden sich für die Touren an.

Los geht es am S-Bahnhof Friedrichsfelde-Ost, wo auch gleich viele Vietnamesen zu sehen sind. Das ist kein Zufall. Lange war die hier verlaufende Rhinstraße das Zentrum der Vietnamesen in Berlin. Erst ab 2006 verlagerte sich der Schwerpunkt an die Herzbergstraße, als dort das Großhandelszentrum »Đong Xuân« eröffnete. Auf einem 165 000 Quadratmeter großen Gelände des alten volkseigenen Betriebs VEB Elektrokohle siedelten sich 400 Firmen mit zusammen 2000 Beschäftigten an. Es gibt Lebensmittelläden, Bekleidungsgeschäfte, Nagelstudios, Restaurants und vieles andere mehr. Neben vietnamesischen Gewerbetreibenden sind auch welche eingezogen, die aus China, Pakistan und anderen Staaten stammen.

Es sei der zweitgrößte Asiamarkt Europas nach einem noch größeren in Prag, berichtet Mai. »Đong Xuân«[2] heißt Frühlingswiese. Vorbild sei ein gleichnamiger Markt in der vietnamesischen Metropole Hanoi. In der Herzbergstraße gibt es abgesehen vom Asia-Markt noch eine vietnamesische Spielhalle, eine vietnamesische Autowerkstatt und ein vietnamesisches Reisebüro sowie eine Sprachschule, in der Vietnamesen Deutsch lernen. Weiterhin eröffneten unweit zwei vietnamesische Restaurants, darunter das in der Community angesagte »Thanh Koch«. Mai erklärt den Namen des Lokals. Thanh ist der Inhaber. Um ihn von anderen Thanhs zu unterscheiden, ist auf Deutsch sein Beruf hinzugefügt: Thanh, der Koch.

Vietnamesen haben traditionell drei Namen. Vorn steht der Familienname, von denen es nur etwa 300 gibt. Das sei kein Vergleich mit Müller, Meier oder Schulze, erläutert Mai. Fast 40 Prozent der Vietnamesen heißen Nguyen, weshalb dieser Familienname kaum taugt, Personen voneinander zu unterscheiden. Es gibt dann noch einen Mittelnamen und einen Rufnamen, der an letzter Stelle steht. Die in Deutschland geborenen jungen Vietnamesen weichen jedoch oft davon ab, nennen wie im Deutschen erst den Ruf- und dann den Familiennamen. Den Mittelnamen lassen sie einfach weg, erklärt Mai.

Die Frage, was man bei »Tranh Koch« unbedingt probieren sollte, beantworten bei der jüngsten Radtour am Samstag drei teilnehmende Vietnamesinnen. Sie sind sich da einig: Pho – eine unter anderem mit Zimt gewürzte Suppe mit Reisnudeln und wahlweise Rindfleisch (Pho Bo) oder Hühnchen (Pho Ga). Eine der drei Frauen ist zum Studium hergezogen, die beiden anderen folgten als Kinder von DDR-Vertragsarbeitern ihren Eltern.

1980 hatte die DDR ein erstes Anwerbeabkommen und 1987 ein weiteres Abkommen mit Vietnam abgeschlossen. Vietnam wählte die Arbeitskräfte für die DDR aus und bekam zwölf Prozent von deren Bruttolohn überwiesen. Diese Summen sollten in den Wiederaufbau des Landes fließen. Es war in dem bis 1975 währenden Krieg zwischen dem linksgerichteten Norden und dem von US-Truppen massiv militärisch unterstützten Süden schwer zerstört worden. Sechs Quadratmeter pro Person war Platz in speziellen Wohnheimkomplexen. Einen davon, heute ein Seniorenheim, zeigt Marina Mai bei ihrer Radtour.

»Womit die DDR nicht gerechnet hatte: Es wurde viel gekocht«, sagt Mai. Die Vietnamesinnen nicken wissend. Zwei- bis dreimal am Tag kochen ihre Landsleute – und wenn sie damals in drei Schichten arbeiteten, war die Küche rund um die Uhr in Benutzung und musste bereits nach zwei Jahren renoviert werden. In der Regel hatten die Vietnamesen Arbeitsverträge für vier Jahre, manche nur für drei Jahre und andere für fünf. Im Einigungsvertrag von 1990 stand, dass die Vietnamesen noch so lange bleiben dürften, wie ihr Arbeitsvertrag lief. Spätestens 1995 hätten alle in die alte Heimat zurückkehren müssen. Doch Vietnam nahm diese Menschen oft nicht zurück.

Die Überweisungen aus der ganzen Welt an Verwandte in der Heimat sind ein Wirtschaftsfaktor. Sie erreichen pro Jahr inzwischen 13,5 Milliarden US-Dollar. 1997 erhielten die zu diesem Zeitpunkt noch in Deutschland verbliebenen Vietnamesen ein dauerhaftes Bleiberecht[3] und konnten Angehörige nachholen.

Nach der Wende gab es in den ostdeutschen Betrieben Massenentlassungen und den Vietnamesen wurde oft zuerst gekündigt – ihr Platz im Wohnheim gleich mit. Viele machten sich dann selbstständig, verkauften vor Bahnhöfen Kleidung – oder in ihrer Not auch geschmuggelte Zigaretten. Ein Dienstleistungswürfel an der Rhinstraße wurde das erste vietnamesische Handelszentrum, das aber bereits 1994 zu klein wurde. Heute ist dort ein Küchenstudio untergebracht.

Heute wandern Landsleute vor allem aus Zentralvietnam nach Deutschland aus, obwohl die Bergregionen ärmer sind. Es könnte an der Klimakrise in den zentralen Provinzen liegen, vermutet Mai. »Ich habe mir sagen lassen: Erdnüsse wachsen noch, sonst nichts.« Daneben leide der Fischfang unter einer Chemiefabrik.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1141942.dong-xuan-center-plaene-werden-von-menschen-gemacht.html?
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1183961.kiezkultur-vietdeutsche-in-berlin-mehr-als-restaurants-und-nagelstudios.html?
  3. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1192757.chemnitz-pham-phi-son-erhaelt-aufenthaltserlaubnis-nach-odyssee.html?