Kein deutscher Regisseur fängt den Sommer in Brandenburg so wunderbar ein wie Christian Petzold[1]. Das haben er und sein Stammkameramann Hans Fromm bei ihrem französischen Kollegen Éric Rohmer abgeschaut. Wer je mit einem klapprigen Fahrrad durch die Uckermark zum See geradelt ist, verliert sich in sommerlichen Träumereien beim Anblick der bereits in »Roter Himmel[2]« durch die Landschaft radelnden Paula Beer – Petzolds ätherische Muse seit »Transit«.
Doch im letzten Teil seiner von den Elementargeistern der Romantik inspirierten Trilogie, die mit »Undine[3]« begann, muss man ein wenig Geduld aufbringen, bevor man Beer – diesmal in der Rolle der Musikstudentin Laura – wieder im luftigen Sommerkleid durch die Gegend radeln sieht.
Zunächst denkt Laura offenbar daran, sich das Leben zu nehmen. Das lässt der mit allen cineastischen Wassern gewaschene Petzold den Zuschauer erspüren, indem er zunächst zeigt, wie Laura auf einer Autobahnbrücke steht und hinabschaut, dann zieht es sie zum Fluss. Versunken blickt sie auf das Wasser – hier verbindet sich der Film mit der von Beer zuvor verkörperten Undine –, dann schaut sie auf und nimmt einen Stand-Up-Paddler wahr, er zieht an ihr vorbei wie ein Fährmann, der sie in das Reich der Toten locken möchte. Und der Petzold-Fan zappelt wie ein Fisch an seiner Angel, will mehr über diese traurige Frau erfahren.
Dann tritt eine Art moderne Hexe auf den Plan – zurückgenommen verkörpert von Barbara Auer. Zweimal zieht ihr Blick Laura in den Bann, als sie im roten Cabrio ihres Freundes im brandenburgischen Nirgendwo an ihr vorbeifährt. Ganz in der Nähe ihres Hauses baut Lauras Freund dann einen Autounfall, bei dem er stirbt, während Laura wie durch ein Wunder – nahezu unversehrt – überlebt.
»Ich müsste traurig sein, aber ich bin es nicht«, wird sie später sagen – Zeichen dafür, wie abgespalten sie sich fühlt. Betty, die geheimnisvolle Frau, nimmt die lebensmüde Laura kurzerhand in ihr Knusperhäuschen auf.
Jeden Morgen bringt sie ihr Frühstück ans Bett, gibt ihr erstaunlich Passendes zum Anziehen, lässt sie in Haus und Garten mithelfen – beide akzeptieren unausgesprochen ein Arrangement, einander ein wenig Halt zu geben.
Bald streichen sie gemeinsam den schwarzen Zaun weiß – man kann nicht umhin sofort an den makellosen Gartenzaun zu Beginn von »Blue Velvet« zu denken. Zwar entdeckt niemand daraufhin ein abgeschnittenes Ohr im Gras, aber später tauchen zwei Männer in dieser trügerischen Idylle auf – Bettys Ehemann Richard (Matthias Brandt) und der erwachsene Sohn Max (Enno Trebs). Sie gehörten auch schon bei Petzolds mit dem Silbernen Bären ausgezeichnetem Film »Roter Himmel« zum Ensemble.
Vater und Sohn leben derzeit in ihrer Autowerkstatt, ihr Geschäft scheint vornehmlich darin zu bestehen, für halbseidene Kunden die Navigationssysteme ihrer Luxusschlitten zu deaktivieren. Alle in diesem Film scheinen irgendwie vom Weg abgekommen zu sein – ein weiteres klassisches Märchenmotiv. Das reflektiert auch der titelgebende Klavierzyklus »Miroirs No. 3« von Maurice Ravel mit dem Untertitel »Une barque sur l’océan« (»Eine Barke auf dem Ozean«), der immerhin eine rettende Barke für die Schiffbrüchigen des Lebens vor dem inneren Auge heraufbeschwört.
Schon bald folgen Max und Richard – offensichtlich seit langer Zeit das erste Mal – einer Einladung Bettys zum Essen. Laura taucht aus der Küche auf wie ein Schreckgespenst und serviert der Familie ihr Leibgericht, eine großartige Szene, bei der das unausgesprochene Geheimnis die Familie zu verschlingen droht wie ein Höllenschlund.
Doch Vater und Sohn, sichtlich alarmiert, dass eine Fremde offensichtlich den Platz der verlorenen Tochter und Schwester eingenommen hat, halten sich zurück.
Stattdessen beginnen diese Männer, die alles reparieren können, nur bislang nicht in der Lage waren, ihre Familie zu reparieren, zahlreiche Dinge im Haus zu richten – nicht zuletzt das Fahrrad mit der kaputten Sattelstange, damit Laura endlich wieder durch den brandenburgischen Spätsommer radeln kann.
Doch die Flucht der Traumatisierten in eine trügerische Idylle kann nicht von Dauer sein. Erst explodiert recht eindrucksvoll die Spülmaschine, dann Max, der das Offensichtliche ausspricht: dass Laura den Platz der verstorbenen Schwester eingenommen hat.
Laura begreift endlich, dass alle aus dem Sommertagstraum erwachen und versuchen müssen, wieder ins Leben zurückzufinden.
Auch wenn der minimalistische, etwas zu eindeutig geratene Film auf den ersten Blick wie eine Fingerübung des Berliner Regisseurs mit der unverwechselbaren Handschrift wirkt und Petzolds filmische Versuchsanordnungen nicht jedermanns Sache sind: Dieser Film entfaltet noch Tage nach dem Kinobesuch seine für Petzold typische Magie. Die Figuren begleiten den aufgeschlossenen Zuschauer noch weiter durch Tagträumereien, und bei erneuter Sichtung offenbart sich immer mehr, wie fein durchdacht der Film ist. Nicht zu schweigen von dem auf wundersame Weise konservierten Sommergefühl voll leiser Hoffnung, das einen durch kommende, kältere Tage tragen kann.
»Miroirs No. 3«: Deutschland 2025. Regie und Buch: Christian Petzold. Mit: Paula Beer, Barbara Auer, Matthias Brandt, Enno Trebs. 86 Min. Kinostart: 18. September.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1194068.christian-petzold-miroirs-no-ein-sommertagstraum.html