nd-aktuell.de / 16.09.2025 / Berlin

Verfassungsschutz-Reform: Zugriff auf alle Kameras

Der schwarz-rote Senat will dem Berliner Verfassungsschutz mehr Kompetenzen geben

David Rojas Kienzle
Überwachungskameras im öffentlichen Raum sind selten so offensichtlich. Der Senat will dem Verfassungsschutz Zugriff auf sie geben.
Überwachungskameras im öffentlichen Raum sind selten so offensichtlich. Der Senat will dem Verfassungsschutz Zugriff auf sie geben.

In Actionfilmen ist es längst Realität. Geheimdienstmitarbeiter*innen sitzen in futuristischen Büros voller Bildschirme und schalten sich live in Überwachungskameras ein, verfolgen mal Helden, mal Bösewichte über Satelliten. Was bislang noch Science-Fiction war, könnte in Berlin teilweise Realität werden. Der schwarz-rote Senat plant eine Reform des Verfassungsschutzgesetzes des Lands Berlin.

Ein Teil der Reform: Betreiber*innen von Videoüberwachung[1] sollen vom Verfassungsschutz (VS) zur Ausleitung und Übermittlung von Aufzeichnungen verpflichtet werden können. »Der VS kann dann zum Beispiel die BVG anschreiben und verlangen, dass eine Schnittstelle eingebaut wird für alle Kameras in den Bahnhöfen«, erklärt David Werdermann von der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) im Gespräch mit »nd«.

Wer sich in Berlin im öffentlichen Raum bewegt, müsste daher künftig permanent damit rechnen, durch den Inlandsgeheimdienst beobachtet zu werden. Wenn nicht gezielt, dann als Beifang von Beobachtungen. »Das ist dystopisch«, sagt der GFF-Experte. Und aus seiner Sicht auch verfassungswidrig. Die Eingriffsschwelle sei unzureichend, ein normenklarer Richtervorbehalt fehle. Schließlich verstoße das Vorhaben auch gegen das Bundesdatenschutzrecht. Demnach dürfen Daten aus einer Videoüberwachung nur zur Gefahrenabwehr oder Verfolgung von Straftaten weiterverarbeitet werden. Der VS verwendet die Daten aber für einen gänzlich anderen Zweck: nämlich die Beobachtung von Bestrebungen gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung (FDGO)[2].

Hintergrund der Gesetzesreform sind Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu den Verfassungsschutzgesetzen aus Bayern[3] und Hessen. Geklagt hatte jeweils die GFF[4]. Die Urteile machen eine Reform auch anderer Landesgesetze notwendig. Die neuen Kompetenzen für Videoüberwachung folgen aber einem gänzlich anderen Ziel, nämlich der Verbesserung von Observationsergebnissen. »Wir hatten schon oft die Fälle, dass wir jemanden observiert und dann verloren haben oder keine gute Sicht auf die Person hatten«, sagt ein Sprecher des Innensenats am Montag in der Sitzung des Ausschusses für Verfassungsschutz des Berliner Abgeordnetenhauses im Rahmen einer Anhörung zum Gesetzesentwurf.

»Der VS kann dann zum Beispiel die BVG anschreiben und verlangen, dass eine Schnittstelle eingebaut wird für alle Kameras in den Bahnhöfen.«

David Werdermann Rechtsanwalt bei der Gesellschaft für Freiheitsrechte

An dem Text gibt es aber neben der ausufernden Videoüberwachung noch weitere Kritik. Zu der Expert*innen-Anhörung des Entwurfs ist neben GFF-Experte Werdermann auch der Wissenschaftler Jakob Hohnerlein geladen. Er arbeitet am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht. Hohnerlein kritisiert, welcher FDGO-Begriff im Gesetz verwendet wird. Das geplante Berliner Verfassungsschutzgesetz verweist auf das Bundesrecht. Infolge einer deutlichen Änderung in der Rechtsprechung werde die FDGO mittlerweile deutlich enger ausgelegt. Zuvor habe schon eine weitgehend grundlegende Kritik an den bestehenden Verhältnissen zu einer Beobachtung des VS geführt. »Ein aktuelles Beispiel war die Observation der Gruppe Ende Gelände[5]«, sagt Hohnerlein. Er ist der Ansicht, dass sich die Änderung in der Rechtsprechung auch im Gesetz widerspiegeln müsse.

Ein weiterer Kritikpunkt, den Werdermann und Hohnerlein teilen, ist die geplante Regelung darüber, wann der VS welche Maßnahmen durchführen darf. Je nach Schwere des Grundrechtseingriffs, den eine Beobachtungsmaßnahme darstellt, verlangt das Bundesverfassungsgericht verschiedene Eingriffsschwellen, die durch eine »Beobachtungsbedürftigkeit« definiert werden sollen. »Aktuell ist das zwar noch schlechter geregelt«, sagt David Werdermann zu »nd«. Aber die Änderungen würden den Vorgaben des Verfassungsgerichts nicht gerecht werden.

Die eingangs erwähnte Videoüberwachung im öffentlichen Raum etwa soll eine »einfache Beobachtungsbedürftigkeit« voraussetzen. Ein weiteres Beispiel ist der Einsatz von verdeckten Mitarbeiter*innen und sogenannten V-Leuten, also angeworbenen Informant*innen. Zwar soll mit dem neuen Gesetz für besonders lange und eingriffsintensive Einsätze eine »erhöhte Beobachtungsbedürftigkeit« Voraussetzung sein. Diese ergibt sich allerdings schon bei Straftaten, bei denen im Höchstmaß eine Verurteilung zu drei Jahren Haft droht. »Das können geringfügige Straftaten wie eine Nötigung sein, die schon bei Sitzblockaden angenommen wird«, bemängelt Werdermann. Außerdem müssten solche längeren Einsätze nicht in jedem Fall von einem Gericht angeordnet werden.

Mit dem Entwurf soll der VS auch leichter Kontakt- und Begleitpersonen überwachen können, auch wenn sie selbst nicht die Kriterien für eine Beobachtung erfüllen. »Für eine geheimdienstliche Überwachung kann es daher unter Umständen genügen, Kontakt zu Personen zu haben, die vom Verfassungsschutz einem «›Verdachtsfall‹ zugeordnet werden», erläutert Werdermann. Es werde eine Art Kontaktschuld etabliert, die eine lähmende Wirkung auf das politische Leben haben könnte, so der GFF-Experte. Besonders irritiert zeigt sich Werdermann darüber, dass Journalist*innen in dem neuen Gesetzesentwurf keinen besonderen Schutz erfahren sollen. Gespräche mit den «falschen» Quellen könnten dann zu einer Beobachtung durch den VS führen.

Unter den im Ausschuss angehörten Expert*innen gibt es aber nicht nur Kritik. Dietmar Marscholleck vom Bundesinnenministerium sagt, man könne zwar kleinteilig darüber diskutieren, ob es dem Gesetzentwurf gelinge, die Herausforderungen durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aufzugreifen. Aber: «Die großen Linien sind im Gesetz enthalten», sagt er.

Viel wichtiger ist Marscholleck eine andere Frage: «Schafft es der Gesetzentwurf die Herausforderung zu bewerkstelligen, den Verfassungsschutz als wirksame Aufklärungsbehörde aufzustellen, in einer Zeit, die dringend danach verlangt?» Der BMI-Beamte denkt, dass dem so sei. Aber auch er hat einen Verbesserungsvorschlag. Die Bedrohung durch «fremde Mächte» wie Russland und China sollte in ihrer Beobachungsbedürftigkeit per se in der obersten Klasse enthalten sein.

Manche der Kritikpunkte hätten schon auf der Fachebene ausgeräumt werden können – hätte die Innenverwaltung die Datenschutzbeauftragte des Landes Berlin Meike Kamp[6] frühzeitig eingebunden. «Wir haben von dem umfangreichen Gesetzentwurf erst Kenntnis erhalten, als er in das parlamentarische Verfahren einging», sagt sie. Zwar ist eine Einbeziehung auf der Fachebene nicht vorgesehen, aber bei dem Gesetzesentwurf gehe es um tiefe Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. «Wir hätten an einigen Stellen eine grundrechtliche und datenschutzrechtliche Expertise eingebracht, die sicherlich hilfreich gewesen wäre», so Kamp.

«Leider hat die Vergangenheit oft genug gezeigt, dass gerade, wenn es um Sicherheitsgesetzgebung geht, immer wieder die Verfassungsgerichte gekommen sind und Regelungen beanstandet haben», fasst der Sprecher für Innenpolitik der Grünen-Fraktion, Vasili Franco, die Situation zusammen. Und der Senat habe sicher kein Interesse daran, ein verfassungswidriges Gesetz auf den Weg zu bringen.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1192085.polizeibefugnisse-asog-reform-in-berlin-ueberwachungsstaat-in-den-startloechern.html
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1160804.radikalenerlass-breiter-widerstand-gegen-westdeutsche-praxis.html
  3. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1163285.ueberwachung-geheimdienst-gehoert-aufgeloest.html
  4. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1171277.gesellschaft-fuer-freiheitsrechte-gesellschaft-fuer-freiheitsrechte-gezielte-klagen-als-konzept.html
  5. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1183815.verdachtsfall-nach-verfassungsschutzbericht-solidaritaet-mit-ende-gelaende.html
  6. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1191505.jahresbericht-berliner-datenschutzbericht-kameras-ki-ueberwachung-und-stalking.html