nd-aktuell.de / 17.09.2025 / Kultur

Ja, genau so war’s

Toni Krahl stellte in Berlin mit den Kinx sein Solo-Debütalbum vor – Deutschlandtour folgt

Karlen Vesper
Toni Krahl und die Kinx vom Prenzlauer Berg in der Berliner Kulturbrauerei
Toni Krahl und die Kinx vom Prenzlauer Berg in der Berliner Kulturbrauerei

Er beschwört gelebtes Leben. In der Berliner Kulturbrauerei, zur Vorstellung seines Solo-Debütalbums. Auf der kleinen Bühne im Palais zaubert Toni Krahl mit etwas kratziger Stimme Erinnerungen hervor. Auf der Leinwand hinter ihm ist, in Sepia, die alte S-Bahnbrücke Schönhauser Allee, Ecke Kastanienallee zu sehen. Sodann flackern Fotos aus dem Familienalbum auf: Kindheit, Disco, erste Liebe, Zweisamkeit am Ostseestrand, standesamtliche Hochzeit, Töchterchen wird geboren, viele glückliche Momente, berufliche Erfolge, aber auch private Katastrophen, Scheidung, »die hellen und die dunklen Stunden« ... Der blaue Reisepass – ein Hinweis darauf, dass Toni Krahl und seine Band City zu den privilegierten DDR-Künstlern gehörten, die zu Auftritten in den Westen reisen durften. Er dachte nicht daran, drüben zu bleiben.

Und ja, auch diese neuen Lieder gehen wie jene dereinst von City unter die Haut. Genau so war’s. Oder so ungefähr. Das eigene bisher gelebte Leben zieht an einem vorbei. Irre Jamsessions, erster Kuss und lernen, lernen, nochmals lernen, am Wochenende ins Haus der Jungen Talente, zum Jazz mit Ruth Hohmann und Uschi Brüning, oder in den Bürgerpark Pankow, wo die angesagtesten Bands auftraten ... Und tanzen, tanzen, tanzen, bis zur totalen Erschöpfung. Und ja, auch die Plackerei, nicht nur den Kinderwagen vier Treppen hochasten, sondern auch die Briketts für den alten Kamin in der Anderthalb-Zimmerwohnung mit Außenklo und feuchten Wänden, der Kleine ständig erkältet. Und trotzdem wohnte das Glück im Hinterhaus im Prenzlauer Berg, ein kleines Paradies. Irgendwann dann steht die Welt auf dem Kopf. Das Leben wird durcheinandergewirbelt. Und es bleibt ein Dauerlauf.

»Genau so war’s ... so ungefähr/ Es ist schließlich schon ein paar Jährchen her«, heißt es im Titelsong des Solo-Debütalbums von Toni Krahl.

Sein Leben im ostdeutschen Arbeiter- und Bauernstaat war ein Auf und Ab. Mit 19 Jahren wurde er zu einer dreijährigen Haftstrafe verurteilt, weil er sich an einer Protestdemonstration gegen den Einmarsch der Warschauer Vertragsstaaten in die ČSSR beteiligt hatte. »Wer sich in Schweigen hüllt, hat sich schon verraten.« Und: »Es braucht ein Herz dazu, um sich zu bekennen.« Das Urteil wird zwar in eine zweijährige Bewährungsstrafe umgewandelt, ist dennoch ungerecht und ungerechtfertigt. Zumal mit Nebenwirkungen: Vater Franz Krahl wird als Abteilungsleiter in der Redaktion »Neues Deutschland« abgesetzt und ins Archiv verbannt; eine bevorzugte Strafe für Genossen, die sich »Verfehlungen« schuldig gemacht haben beziehungsweise deren Angehörige. Ebenso wie die Abkommandierung in die Produktion: Toni Krahl wird in den VEB Werkzeugmaschinenfabrik »7. Oktober« geschickt, arbeitet später als Mechaniker in der Charité und als Zusteller bei der Deutschen Post, während er sich nebenbei musikalisch ausprobiert, in verschiedenen Formationen. Bis er 1975 seine Band findet: City.

Er ist der Frontmann, der Sänger, das Gesicht dieser Band. Obwohl der Chef eigentlich Fritz Puppel war. »Doch der hat gemacht, was ich gesagt habe«, erklärt Toni Krahl verschmitzt. Um sich sodann zu korrigieren: »Nee, ich brauche unbedingt kreative Kollegialität.« Und die bewies City, ungeachtet einiger personeller Wechsel; da blieb auch mal ein Kollege im Westen. Der Durchbruch ist 1977 mit »Am Fenster« gelungen. Im folgenden Jahr kommt eine gleichnamige LP in der Bundesrepublik und (sic) in Griechenland heraus. Amiga, die DDR-Plattenfirma für »Unterhaltungskunst«, darf jedoch eine ausgekoppelte Single mit dem legendären, letztlich weltweit zehnmillionenfach (!) verkauften Song nicht veröffentlichen. Und natürlich gibt es auch in dieser Band interne Spannungen. Als Georgi Gogow fortgeht, heißt es trotzig: »Ohne Bass und ohne Haare mit City durch die 80er Jahre.« Eine Anspielung auf das, im Gegensatz zum ausgeschiedenen Bulgaren, dürftige Kopfhaar der meisten Bandmitglieder. City-Fans strömen ohne Groll ebenso zu den Konzerten der von Gogow neu gegründeten Band NO 55. Die berühmte »Geige« kehrt nach ein paar Jahren zurück. »Mal geht’s bergrunter, mal geht’s bergauf«, erfährt man aus einem neuen Song von Toni Krahl.

Als City nach 50 Jahren sich auflöst, ist die Fangemeinde schockiert. Toni Krahl begründet am vergangenen Dienstag die Entscheidung noch einmal, zugleich gestehend, sich am Morgen danach, dem letzten gemeinsamen Auftritt und der letzten feucht-fröhlichen Abschiedsfeier »wie Asche gefühlt« zu haben: »Was haben wir getan?« Es sei aber richtig gewesen, ist er heute überzeugt. Schlagzeuger Klaus Selmke, der mit Puppel 1972 die Band aus der Taufe gehoben hatte, verstarb im ersten Corona-Jahr, bereits seit Längerem schwer erkrankt. Man habe ihn immer wieder zu ermuntern versucht durchzuhalten, bis zum Jubiläum, dem halben Saeculum. »Das hat er leider nicht mehr geschafft. Und ohne ihn wollten wir nicht weitermachen, kein neues City-Kapitel aufschlagen.« Im vergangenen Jahr starb dann auch Puppel.

Der Abschiede gab es viele im Leben des Toni Krahl. Nach der »letzten Runde« mit City geht’s in eine neue. Für Wehmut keine Zeit. Aufstehen, weitermachen, weitersingen. Die Fans nicht enttäuschen. Toni Krahl verrät: »Ich habe eigentlich ein sehr sonniges Gemüt, ich bin schon morgens ein fröhlicher Mensch.«

Es ist ihm wichtig zu betonen, dass sein Solo-Debütalbum »keine City-Resterampe« sei. Es bietet lediglich zwei Songs, die als Idee schon im Kreis der Freunde angedacht, aber nicht umgesetzt worden waren und erst jetzt mit seiner neuen Band, Die Kinx vom Prenzlauer Berg, und unter der umsichtigen Obhut des Produzenten André Kuntze realisiert wurden. Quasi als ein Vermächtnis, eine Hommage an die alte Band. Unleugbar steckt von dieser noch viel in den neuen Songs. Wie sollte es auch anders sein. Nicht nur ob des Interpreten, sondern auch des Texters, der nicht Dichter genannt werden will, sich selbst bescheiden als Gebrauchslyriker vorstellt: Alfred Roesler-Kleint. Er hat etliche Lieder für City geschrieben, zu DDR-Zeiten allerdings vielfach unter Pseudonym. Er war »bei der Obrigkeit« nicht wohlgelitten, umso beliebter bei den Musikern. »Am Fenster« allerdings beruht auf einem Text der Leipziger Schriftstellerin Hildegard Maria Rauchfuß. Ach, wie leidenschaftlich haben wir dereinst das Sehnsuchtslied nach Freiheit ohne Mauern und Grenzen mitgesungen: »Flieg ich durch die Welt ... Nanananei, nanananei ...«

Auf die Frage von »nd«, inwieweit sich das Verschwinden der DDR 1990 als Reibefläche und Inspiration auf City ausgewirkt und ob man auch unter Publikumsschwund gelitten habe, als die Mauer gefallen war und die westdeutsche »Konkurrenz« auf den ostdeutschen Markt drängte, antwortet Toni Krahl mit einem Zitat von Puppel. Der Freund habe damals die Freunde aufgemuntert: »Keine Angst, die Ostler werden eines Tages die alten Platten herauskramen, die Lieder hören wollen, nach denen sie getanzt, geliebt und gelebt haben. Dann sind wir wieder vorne an.« Genauso war’s.

Und das hatte weniger oder nichts mit Ostalgie zu tun, sondern mit den Songs, den Texten. Eine eingeschworene Fangemeinde hatte City wie einige andere Ostrock-Bands eh ungebrochen, durchgehend. Sie mussten jedenfalls nie wie abgehalfterte bundesdeutsche Schlagersänger zur Eröffnung von Möbelhäusern oder an Verkaufsständen von Gebrauchtautos trällern. Toni Krahl erinnert sich, dass nicht wenige DDR-Künstler nach der Vereinigung allerdings sehr wohl in Panik waren, in existentielle Not geraten sind und sich um Jobs in der Versicherungsbranche bemühten.

Indes, auch und gerade die kapitalistische Gesellschaft fordert Künstler heraus, sollte sie herausfordern. Die neuen Songs von »Toni«, so die neue Marke, sprechen Klartext. Da wird von einer Frau erzählt, die mitten im Leben steht – »mit 50 Jahren ist sie noch kein altes Eisen« – und doch eiskalt gekündigt wird, als sie an Brustkrebs erkrankt. Für Toni Krahl zeigt sich hier die hässliche Fratze des Kapitalismus. Er wolle Solidarität mit den Frauen bezeugen, die in dieser unbarmherzigen Gesellschaft untergebuttert werden.

Und natürlich ist alter wie neu auflebender Antisemitismus für ihn, den Sohn jüdischer Emigranten, »eine ganz schreckliche Sache. Ich leide darunter.« Die aktuellen Ereignisse sieht er im Kontext zu dem »ganz großen Drama seit Jahrzehnten in Nahost«. Toni Krahl, Mitglied der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, wie ein Abzeichen am Revers seiner Jacke bezeugt, betont explizit, dass er die Opfer auf beiden Seiten bedauert. Er outet sich als Pazifist und berichtet: »›Der Friede muss bewaffnet sein‹, hieß es in der DDR.« Der Musiker überlässt es den anwesenden Pressevertretern, über die Ähnlichkeit zu Äußerungen heutiger Bundespolitiker nachzudenken. Frank und frei, unmissverständlich sein Bekenntnis auf dem Debütalbum: »Ich hab’s mir nur mal vorgestellt/ ’Ne bess’re und schön’re Welt/ wo einer zu dem anderen hält/ Ich hab’s mir nur mal ausgemalt/ Das sanfte Ende der Gewalt/ Wo keiner mehr mit Schmerzen zahlt ... Die Wirklichkeit ist fürchterlich.«

So ist’s. Und gewiss ist, dass der neue Toni der alte bleibt und sich dennoch an der Seite der Kinx, erfahrenen, professionellen Musikern, neu erfindet. In der DDR sozialisierte und dialektisch geschulte DDR-Bürger können jedenfalls seine Bemerkung am Dienstag in Berlin nur derart interpretieren. In Abwandlung eines Klassikers der Weltliteratur, der in der DDR gern zitiert wurde, bekundet Toni Krahl mit einem Augenzwinkern: »Es wird sich vieles ändern, aber alles bleibt, wie es ist.«

Zum Schluss des kleinen, aber feinen Live-Konzerts in der Berliner Kulturbrauerei gab’s natürlich noch die Klassiker, oder wie Toni Krahl sagt, »die Kronjuwelen«. Nanananei, nanananei ...

»Genau so war’s. Toni Krahl und die Kinx vom Prenzlauer Berg«, CD ab 19.9. im Handel; Deutschlandtournee ab 22.11, Tickets unter www.eventim.de

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