nd-aktuell.de / 18.09.2025 / Berlin

Stulle mit Zucker oder Senf

Dirk Harder wäre für Potsdam ein Oberbürgermeister von ganz unten, der in bitterer Armut aufgewachsen ist

Andreas Fritsche
Ein Kandidat, der zuhört: Dirk Harder (r.) beim Sommerfest der Linken im Lustgarten
Ein Kandidat, der zuhört: Dirk Harder (r.) beim Sommerfest der Linken im Lustgarten

Der Sohn von Dirk Harder hat das Potsdamer Einstein-Gymnasium besucht. Aber das ist viele Jahre her. Darum muss Harder sich kurz besinnen, wo sich in diesem altehrwürdigen Gebäude an der Hegelallee die Aula befindet. Dort beantwortet Dirk Harder gleich Fragen von Schülern zur Oberbürgermeisterwahl am 21. September[1].

»Ich bin parteilos, aber nicht unpolitisch. Mein Herz schlägt links«, erklärt Harder. Die Linke hat ihn nominiert. 1967 ist der Kandidat in Potsdam geboren und in einer sehr armen Familie aufgewachsen. Die Mutter sei bereits mit 40 Jahren Invalidenrentnerin geworden und habe lediglich 190 Mark im Monat zur Verfügung gehabt, während Arbeiter und Angestellte damals in der DDR so um die 700 bis 800 Mark verdienten, berichtet Harder. Die Folge für ihn und seinen Bruder: »Wir konnten uns entscheiden, ob wir Brot mit Zucker oder mit Senf essen.« Für Käse und Wurst hat das Geld nicht gereicht.

Abitur hat Harder nicht. Das sei damals nicht so einfach gewesen wie heute, erzählt er den Gymnasiasten. In einer Klasse von 25 Schülern seien in der DDR nur zwei auf die Erweiterte Oberschule gegangen, auf der man Abitur machen konnte. Harder hat Steinmetz gelernt, dann aber in Jugendklubs gearbeitet. Er gehört zu den Gründern des linken Jugendzentrums »Freiland« und hat beim beliebten Kulturhaus »Lindenpark« mitgemischt. Zuletzt war Harder elf Jahre lang Geschäftsführer des Stadtjugendrings, bevor er 2016 zur Arbeiterwohlfahrt wechselte.

Schon seit den 1990er Jahren entschied sich die Oberbürgermeisterwahl in Potsdam immer zwischen Linke und SPD, wobei die Sozialdemokraten jeweils die Oberhand behielten. Doch nachdem Mike Schubert (SPD) im Mai bei einem Bürgerentscheid abgewählt[2] wurde, könnte nun alles anders sein. Was denkt Dirk Harder über seine Aussichten? »Das ist sehr schwierig einzuschätzen«, antwortet er. »Aber es gibt Leute, die sagen, ich könnte es in die Stichwahl schaffen. Und dann hängt es davon ab, gegen wen.«

Bei der Bundestagswahl im Februar lagen im Stadtgebiet von Potsdam fünf Parteien fast gleichauf zwischen 16,1 und 17,6 Prozent der Zweitstimmen: Grüne, CDU, AfD, SPD und Linke.

Wenn nun im schlimmsten Fall bei der Oberbürgermeisterwahl die Stadtverordneten Clemens Viehrig (CDU) und Chaled-Uwe Said (AfD) in die Stichwahl kommen sollten, hätte Potsdam den alten SPD-Rathauschef Schubert lieber nicht abgewählt, analysierte der linke Politikwissenschaftler Wolfram Adolphi. Zwar wurde Mike Schubert eine selbstherrliche Amtsführung zur Last gelegt und die Annahme von kostenlosen Eintrittskarten zu Sportwettbewerben für seine Frau. Doch hatte sich Schubert auch für die Rettung von Flüchtlingen aus Seenot und für ihre menschenwürdige Behandlung eingesetzt und war ein verlässlicher Partner für das Bündnis »Potsdam bekennt Farbe«.

Es wurde nach der Abwahl von Schubert kontrovers diskutiert, sich auf die frühere Kulturdezernentin Noosha Aubel[3] (parteilos) als gemeinsame Kandidatin des linksalternativen Spektrums zu verständigen. Die Grünen und die in der Stadt bedeutsame Wählergruppe »Die Andere« halten zu ihr, außerdem die kleine linksliberale Partei Volt und das Bündnis Sahra Wagenknecht.

Doch bei der Linken haben einige nicht vergessen, wie sich die Grünen 2018 vor der Stichwahl auf die Seite des Sozialdemokraten Schubert schlugen, als die linke Gleichstellungsbeauftragte Martina Trauth eine echte Chance hatte, ihn zu besiegen.

Aubel und die Linken haben durchaus inhaltliche Überschneidungen, sind aber nicht in allen Punkten einer Meinung. Die Partei sieht beispielsweise aus verschiedenen Gründen Pläne von Software-Milliardär Hasso Plattner sehr kritisch. Der betagte Gründer des SAP-Konzerns will der Universität Potsdam einen neuen Campus auf dem Brauhausberg bauen, damit sich das Hasso-Plattner-Institut am Griebnitzsee ausbreiten kann. Noosha Aubel begreift dieses Projekt als Chance. So sagt sie es den Schülern des Einstein-Gymnasiums, deren Fragen sie quasi zeitgleich mit Dirk Harder beantwortet. Es ist auch noch Clemens Viehrig von der CDU da und Severin Fischer von der SPD. Alle vier Kandidaten sprechen in je einer Ecke der Aula mit jeweils zwölf Schülern. Nach 15 Minuten ertönt ein Gong und die Gruppe zieht zum Stehtisch des nächsten Kandidaten.

Severin Fischer ist Wirtschaftsstaatssekretär in der Berliner Senatsverwaltung. Von daher kennt man diesen Politiker meist in gut sitzenden Anzügen. Im Einstein-Gymnasium tritt er stattdessen jugendlich frisch gestylt mit Turnschuhen und T-Shirt auf, ohne dass es peinlich wirkt. Der Sozialdemokrat erweckt den Eindruck, dass er alles tragen kann. An ihm sieht es immer gut aus.

Dirk Harders Garderobe scheint dagegen nicht viele Varianten zu kennen. Er trägt gewöhnlich leicht ausgewaschene Jeans und ist ohne Mühe authentisch. Humor hat er bei einem Wahlwerbesport bewiesen, in dem er an einer gefährlichen Stelle am Landtag auf einem Bürostuhl sitzend um die Ecke gerollt kommt. Das ernste Problem, auf das damit aufmerksam gemacht werden sollte: Hier kann es zu schweren Zusammenstößen von Radfahrern und Fußgängern kommen. Beim Verkehr gibt es einiges zu tun.

Ein anderes, mindestens genauso ernstes Thema ist die Wohnungsnot in Potsdam. Wer überhaupt ein Quartier findet, muss in der Regel sehr viel Geld dafür hinblättern. Dirk Harder weiß, wovon er spricht. Anderthalb Jahre suchte sein inzwischen 31 Jahre alter Sohn für sich und seine Freundin eine Bleibe. Die Wohnung, die sie endlich bekommen haben, kostet 14 Euro Kaltmiete pro Quadratmeter. »Das ist eine Katastrophe«, meint der Vater. Ihm sind bezahlbare Mieten wichtig. Dafür will er sich einsetzen.

Der 57-Jährige passt auf, im Wahlkampf nicht jedem alles zu versprechen. Die beschränkten finanziellen Möglichkeiten der Kommune sind eine Tatsache, mit der er sich abfinden muss. »Ich habe kein Sparkonzept dabei«, sagt der Kandidat in der Aula des Gymnasiums. »Ich habe einen sozialen Kompass.« Er würde sich als Oberbürgermeister tage- und wochenlang mit Experten zusammensetzen und darüber nachdenken: »Was können wir uns leisten? Was können wir uns nicht leisten?« 500 Millionen Euro für die Reaktivierung des historischen Stadtkanals? Da braucht Harder keine Bedenkzeit. Dazu sagt er: »Nein, wir haben andere Probleme.« Um derartige Prestigeprojekte könnten sich vielleicht künftige Generationen kümmern. Im Moment fehle dafür das Geld.

Die AfD erzielt anders als im restlichen Brandenburg in der Landeshauptstadt Potsdam nur vergleichsweise schwache Ergebnisse. »Hier wohnen viele aufgeklärte Menschen«, sagt Harder. Er muss sie vor der AfD nicht extra warnen, erzählt den Gymnasiasten aber dennoch für alle Fälle, wie diese Partei die Fakten verdrehe.

Harder berichtet auch, Grundlage seiner Zusammenarbeit mit der Linken sei deren Kommunalwahlprogramm von 2024. Der Kreisverband zählt 820 Genossen. »Potsdam braucht Dirk Harder als OB, weil die Stadt keine Karriereleiter ist«, meint die Kreisvorsitzende Iris Burdinski. »Dirk kommt von unten und hat sein ganzes Arbeitsleben in den Dienst derer gestellt, deren Alltag nicht in den Villen am Heiligen See stattfindet. Potsdam braucht keine abgehobenen Verwaltungsbonzen, sondern jemanden wie ihn, der den Fokus auf den sozialen Zusammenhalt legt.«

Burdinski zeigt sich zuversichtlich, dass Harder die Potsdamerinnen und Potsdamer von sich überzeugen wird, am Sonntag in die Stichwahl einzieht und gute Chancen hat, nächster Oberbürgermeister Potsdams zu werden. »Wir werden jedenfalls bis zum Schluss um jede Stimme kämpfen«, versichert Burdinski.

Potsdam zählt etwa 193 000 Einwohner, rund 143 000 von ihnen sind wahlberechtigt. Zur Auswahl stehen sieben Kandidaten. Neben den bereits erwähnten Harder, Aubel, Fischer, Viehrig und Said sind das Alexander Wietschel von der Spaßpartei »Die Partei« und der Stadtverordnete Michael Reichert (Freie Wähler). Von Reichert hängen Wahlplakate in der Stadt, die ihn vor einem nackten Hintern zeigen mit dem Spruch: »Potsdam geht mir nicht am Arsch vorbei!«

Auch in Frankfurt (Oder) wird am Sonntag ein neuer Oberbürgermeister gewählt. Denn der bisherige Rathauschef René Wilke ist im Mai auf den Posten des brandenburgischen Innenministers gewechselt ist. Hier stellte Die Linke keinen eigenen Bewerber auf, sondern unterstützt die Kandidatur der früheren Bundestagsabgeordneten Simona Koß[4] (SPD).

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1193549.oberbuergermeisterwahl-eine-art-wahl-o-mat-fuer-potsdam.html?
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1191488.kommunalpolitik-oberbuergermeister-mike-schubert-in-potsdam-abgewaehlt.html?
  3. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1192432.kommunales-eine-vielversprechende-kandidatin.html?
  4. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1193569.wahlen-versteckter-hitlergruss-im-wahlkampf.html?