Es war nicht Keir Starmer, der den linken Labour-Chef Jeremy Corbyn durch eine Rufmordkampagne abgesägt hat. Es war ein rothaariger Ire. Kaum ein Wähler kennt ihn, aber Patrick Maguire und Gabriel Pogrund, Journalisten der Londoner »Times«, behaupten in ihrem Buch »Get In: The Inside Story of Labour Under Starmer«, dass Morgan McSweeney, eine der einflussreichsten Figuren der zeitgenössischen britischen Politik ist. Er ist zurzeit Stabschef in Downing Street unter Starmer, dem er half, die Labour-Partei für sich zu gewinnen.
Im ersten Satz heißt es, dass Jeremy Corbyn durch eine »Verschwörung« entmachtet wurde. Das penibel recherchierte Buch belegt, dass McSweeney der Architekt dieser »beispiellosen Täuschung« war. Der 48-Jährige aus der südirischen Grafschaft Cork hat mit den beiden Autoren offenbar ausführlich kooperiert. McSweeney war als 17-Jähriger nach London gekommen und hatte als Hilfsarbeiter auf Baustellen gearbeitet. Später verbrachte er drei Monate in einem israelischen Kibbuz, was er als prägende Lebenserfahrung beschreibt. Danach machte er einen Abschluss in Politik und Marketing an der Middlesex University.
Als Jeremy Corbyn und seine Mitstreiter 2015 die Kontrolle über die Labour-Partei übernahmen, reagierte McSweeney mit der Gründung eines sogenannten Think Tanks namens Labour Together. Er täuschte Corbyn und gab sich als Unterstützer aus. Tatsächlich handelte es sich bei Labour Together jedoch um eine skrupellose Gruppierung, deren Ziel es war, »Corbyn mit allen Mitteln zu delegitimieren und zu zerstören (…) und die Partei-Rechte wieder an die Macht zu bringen«, heißt es in dem Buch. Die wichtigste Waffe war der Vorwurf des Antisemitismus[1], der Corbyn weit über Großbritannien hinaus diskreditierte.
Das erste Opfer war »The Canary«, eine Pro-Corbyn-Website, die monatlich 8,5 Millionen Zugriffe verzeichnete und von McSweeney bei den Werbekunden als antisemitisch verleumdet wurde. The Canary« wurde später von der Regulierungsbehörde freigesprochen, doch da war die Zahl der Mitarbeiter schon von 22 auf einen einzigen geschrumpft. Gleichzeitig lancierte McSweeney Fake News über Pro-Corbyn-Facebook-Gruppen an die »Sunday Times«, wo sie am 1. April 2018 unter der Überschrift »Aufgedeckt: Jeremy Corbyns Hassfabrik« veröffentlicht wurden.
Das Geld zur Finanzierung von Labour Together stammte zum Großteil vom Multimillionär Trevor Chinn, der mit einer Firma, die Garagen und Parkplätze vermietete, reich geworden war. Er sei ein »jüdischer Philanthrop«, schreiben Maguire und Pogrund, der »große Bedenken hinsichtlich der Wahl eines ausgesprochenen Gegners des jüdischen Staates zum Labour-Chef hatte«.
Schließlich stellten seine Gegner Corbyn eine Falle: In die offizielle Antwort auf den Bericht der Gleichstellungs- und Menschenrechtskommission über Antisemitismus in der Labour-Partei wurden die Worte aufgenommen: »Diejenigen, die leugnen, dass dies ein Problem ist, sind Teil des Problems.«
In seiner Antwort auf den Bericht erklärte Corbyn: »Ein Antisemit ist einer zu viel, aber das Ausmaß des Problems wurde aus politischen Gründen dramatisch übertrieben.« Das sei »nicht viel mehr als eine Feststellung des Offensichtlichen« gewesen, schreiben die beiden Buchautoren, aber es habe eine Kette von Ereignissen in Gang gesetzt, die 2020 zum Ausschluss Corbyns aus der Labour-Partei führten.
Als sich Corbyn, der den Brexit befürwortet hatte, 2019 auf eine Wahlniederlage zubewegte, entschied McSweeney, sich für den ehrgeizigen Starmer als Nachfolger einzusetzen. Der hatte den Vorteil, dass er Corbyn loyal gedient und deshalb bei der Parteilinken bessere Chancen hatte. So stammten Starmers politische Äußerungen und seine Reden fortan von McSweeney, der Starmer letztendlich an die Parteispitze brachte.
Nach den Niederlagen der Labour Party bei den Nachwahlen in Hartlepool sowie in Batley und Spen, begann McSweeney mit der Säuberung der Partei von den Linken. 2021 überrumpelte McSweeney den Parteitag 2021 mit einer Neufassung der Satzung, die darauf abzielte, die Corbyn-Anhänger für immer zu entmachten. Niemand außerhalb seines engen Kreises von Mitarbeitern wusste bis zum letzten Moment von dem Plan, selbst Starmer nicht.
Der vermasselte die erste Fernsehdebatte vor den Wahlen 2024, hatte aber das Glück, dass Tory-Premierminister Rishi Sunak die fatale Entscheidung traf, die Weltkriegsgedenkfeiern vorzeitig zu verlassen. Starmer hatte nun eine geeinte Partei, sah sich einer diskreditierten Tory-Regierung gegenüber und genoss eine weitgehend freundliche Presse. Er erhielt 9,7 Millionen Stimmen[2] und wurde Premierminister.
Im Jahr 2019 hat Corbyn, der durch den Brexit gelähmt war, einer geeinten Opposition gegenüberstand und mit Feindseligkeiten seitens der gesamten Presse und des größten Teils seiner eigenen Parlamentsfraktion konfrontiert war, rund 10,3 Millionen Stimmen erhalten.
McSweeneys Leistung bestand darin, die Stimmen der Partei unter Starmer durch eine geschickte, nach Schwerpunkten finanzierte Wahlkampagne so zu konzentrieren, dass Labour mit einem Drittel der Stimmen zwei Drittel der Parlamentssitze errang.
Die Darstellung von Starmer als Spielball in McSweeneys Händen ist geradezu demütigend. Doch vielleicht hat McSweeney in Anbetracht des dramatisch gesunkenen Rückhalts von Labour entschieden, dass Starmer bereits ein gescheiterter Mann ist. Warum sonst sollte er an einem Buch mitwirken, das seinem Chef so schadet? Er hat damit viele Ressentiments auf sich gezogen – nicht zuletzt, weil er Starmers Stabschefin Sue Gray abgesägt und ihren Job übernommen hat.
Sein gnadenloses Vorgehen gegen die Überreste des Corbynismus hat dafür gesorgt, dass sich ein bedeutender politischer Raum links von der Labour-Partei geöffnet hat. Es haben sich bereits eine ganze Reihe linker Initiativen und Bündnisse gebildet, die über die Bilanz der Labour-Partei nach einem Jahr in der Regierung entsetzt sind. Landesweit haben mindestens 200 Ratsmitglieder die Labour-Partei verlassen.
Ende Juli hat Jeremy Corbyn angekündigt, dass er zusammen mit Zarah Sultana, der Abgeordneten für Coventry South, die aus der Labour-Partei ausgeschlossen worden war, weil sie gegen die Begrenzung der Sozialleistungen rebelliert hatte, eine neue politische Partei[3] gründen werde. Er wolle »eine demokratische Bewegung aufbauen, die es mit den Reichen und Mächtigen aufnehmen kann – und gewinnt«.
Corbyn hatte bei den Wahlen im letzten Jahr als Unabhängiger einen beachtlichen Sieg errungen. Laut Umfragen könnte seine neue Partei mit 18 Prozent der Stimmen rechnen.
Patrick Maguire und Gabriel Pogrund: Get In: The Inside Story of Labour Under Starmer. The Bodley Head, 384 S., geb. 30,95 €
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1194156.britische-sozis-der-mann-der-corbyn-stuerzte.html