Es ehrt İlkay Gündoğan, dass er seine Erklärungen in dieser ernüchternden Champions-League-Nacht[1] hinterher ausführlich auf Deutsch und Türkisch verfasste. Der zum Anführer des türkischen Meisters Galatasaray Istanbul erkorene Ex-Kapitän der deutschen Nationalelf hatte im Herzen von Europa einen Albtraum erlebt. Oder besser eine Lektion in Sachen Leidenschaft, weil Eintracht Frankfurt [2]am Ende die Gäste vom Bosporus überrollt hatte. Der 34-Jährige wurde genau wie Kollege Leroy Sané nach knapp einer Stunde mit der Auswechslung erlöst und gab später zu: »Es war insgesamt nicht gut genug. Wir haben ein bisschen die Köpfe hängen lassen.«
Hatte Bundestrainer Julian Nagelsmann [3]mit seiner Grundsatzschelte am Niveau der Süper Lig, die Gündogans neuer Arbeitgeber mit 15 Punkten und 15:1 Toren nach fünf Spieltagen anführt, doch Recht? Galatasarays Coach Okan Buruk musste einräumen, auf den Kampfgeist der Adlerträger keine Antwort gehabt zu haben. Für sein Team könnte es trotz einer groß angelegten Shoppingtour schwer werden, auf der Bühne der Besten zu bestehen. Dagegen legten die Hessen mit einem klug komponierten Kader einen Crashkurs in Sachen Champions-League-Tauglichkeit hin.
Obwohl Ansgar Knauff als einziger Frankfurter Erfahrung in der Königsklasse vorzuweisen hatte, demonstrierte das Eintracht-Ensemble nicht zum ersten Mal eine Stehaufmännchen-Qualität. Trainer Dino Toppmöller schwärmte: »Was eine Nacht, was für ein Abend. Unglaublich. In der Halbzeit habe ich den Jungs gesagt, dass sie gut sind, dass sie die Qualität haben.« Trainer und Spieler scheinen sich auf der Wegstrecke über Conference League und Europa League gemeinsam weiterentwickelt zu haben.
Den frühen Rückstand durch Yunus Akgün (8.) egalisierte der Hausherr noch glücklich durch ein Eigentor des Unglücksraben Davinson Sanchez (37.), ehe Edeltechniker Can Uzun (45.+2), Doppelpacker Jonathan Burkardt (45.+4 und 66.) sowie Energiebündel Knauff (75.) kraftvoll das Blatt drehten. Erleichtert wirkte Matchwinner Burkardt. »Es war ein unglaublicher Start für die Mannschaft und für mich.«
Der Königstransfer vom FSV Mainz hatte anfangs in Frankfurt arg gefremdelt, nun stieg der 25-Jährige zur Symbolfigur des Widerstandsgeistes auf. Toppmöller erkannte bei ihm den Hang zur Perfektion, der bei der Power dieser Truppe gar nicht sein muss: Nur alles reinhauen – der Rest läuft von selbst! Der Trainer hatte Burkardt vor dem Spiel geraten, »die besondere Energie in diesem Stadion« aufzusaugen. Eine Zielvorgabe für die Ligaphase der Champions League gibt es offiziell nicht: Genießen und möglichst oft gewinnen!
Den wichtigsten Sieg hatte die gar nicht mehr launische Diva vom Main bereits im Vorlauf der Gala errungen – außerhalb des Rasens: Die Hoheit auf den Rängen behielten die Hessen. Offiziell 3000 Tickets waren an den Gast gegangen – letztlich befanden sich maximal 4000 Galatasaray-Anhänger unter den 58 700 Zuschauern. Die angekündigte »Gala-Invasion« sollte ein Hirngespinst bleiben. Schon bei der Konfetti-Choreographie unter dem Motto »Schwarz-weiß mit allen Mann« zeigte sich, dass die Gelb-Roten wenig zu melden hatten.
Eintracht-Vorstand Philipp Reschke freute sich: »Wir hatten in jeder Hinsicht ein Heimspiel. Allen Zuschauern ein Kompliment, dass die Atmosphäre einigermaßen spektakulär und friedlich war.« Der Jurist hatte mit dem Verlust der Dauerkarte oder dem Entzug der Mitgliedschaft denjenigen gedroht, die ihr Ticket auf dem Schwarzmarkt zu überhöhten Preisen verkaufen würden. Laut Reschke blieb der eigene Anhang »achtsam und wachsam«. Und so dröhnte am Ende der nächsten magischen Nacht durch den Stadtwald: »Europas beste Mannschaft – SGE!« Der Gästeblock war da längst verstummt.
Die Adlerträger haben ein Ausrufezeichen für den Standort Deutschland gesetzt: Allen Unkenrufen zum Trotz scheint die Bundesliga konkurrenzfähig. Zumindest am ersten Spieltag. Zwei Siege (Bayern und Frankfurt), zwei Unentschieden (Dortmund und Leverkusen) können sich sehen lassen. Die Konkurrenz aus England (Niederlagen für Chelsea und Newcastle), Spanien (Atletico) oder Italien (Neapel) kam jedenfalls nicht ungeschoren davon. Vielleicht sind deutsche Fußballtugenden doch nicht völlig verschüttet. Auf jeden Fall grüßt der Europa-League-Sieger 2022 von der Tabellenspitze der Champions League, was angesichts der bevorstehenden Aufgaben bei Atletico Madrid (30. September) und gegen den FC Liverpool (22. Oktober) sicher nicht lange so bleiben wird.
Sportvorstand Markus Krösche betonte: »Spitzenreiter nach dem ersten Spieltag, das zähle ich jetzt nicht. Es war einfach eine gute Leistung, die Mannschaft ist stabil und überzeugt von der eigenen Stärke.« Ansonsten habe man im deutschen Fußball schon noch »einige Baustellen«, aber um die Wettbewerbsfähigkeit macht sich der smarte Frankfurter Macher, der auch im Ligaverband DFL mitarbeitet, keine Sorgen. »Für uns und die Liga ist es im internationalen Kontext einfach wichtig, Punkte zu sammeln.« Der Anfang ist gemacht.