Perus bisher letzter von der Bevölkerung gewählter Präsident Pedro Castillo sitzt seit 7. Dezember 2022 in Untersuchungshaft. Zuvor wurde er vom Parlament wegen »Rebellion« abgesetzt, weil er das Parlament auflösen wollte. Im Juni lehnte das Oberste Gericht für Voruntersuchungen Castillos Antrag auf Aufhebung seiner Untersuchungshaft ab. Castillo bleibt somit weiterhin im Gefängnis Barbadillo inhaftiert. Wie lange kann eine Person in Peru in Untersuchungshaft bleiben?
Das ist nicht endgültig geregelt. Die Frage wirft ein Problem auf, das nicht nur Peru betrifft, sondern die Strafrechtssysteme ganz Lateinamerikas. Es handelt sich um einen Verstoß gegen den Grundsatz der Unschuldsvermutung, wonach Personen erst nach einer Verurteilung inhaftiert werden dürfen und nicht schon während des Verfahrens. Gemäß den liberalen Verfassungen lateinamerikanischer Länder wie Argentinien, Brasilien, aber auch Peru sollte die Untersuchungshaft immer die Ausnahme und nicht die Regel sein. Aber heute scheint sich dieses Prinzip in Lateinamerika umgekehrt zu haben, heute werden Personen vor ihrer Verurteilung inhaftiert, während gegen sie ermittelt wird. Dies verstößt gegen internationale Menschenrechtsabkommen und lässt der Justiz einen großen Spielraum für Willkür. Sie kann Personen während der Ermittlungen inhaftieren, selbst wenn sie unschuldig sind.
Gibt es darauf Reaktionen von internationalen Institutionen?
Vereinzelt. Der Interamerikanische Gerichtshof verurteilte beispielsweise den mexikanischen Staat wegen der Anwendung von langen Untersuchungshaftstrafen. Aber dies ist auch in Peru ein sehr ernstes Problem, denn Untersuchungshaft sollte niemals länger als ein paar Monate dauern, Castillo sitzt aber schon seit Dezember 2022. Die Regel, dass Angeklagte während des Verfahrens auf freiem Fuß leben müssen, betrifft auch ihr Recht auf Verteidigung vor Gericht. Es ist ein Unterschied, ob man sich als Gefangener verteidigt – oder in Freiheit. Die Untersuchungshaft verletzt den Grundsatz der Waffengleichheit, wie es im Strafprozessrecht heißt, nachdem Anklage und Verteidigung die gleichen Rechte und Möglichkeiten haben müssen, um ihre jeweiligen Interessen vor Gericht zu vertreten. Im Allgemeinen kann die Untersuchungshaft in Peru sehr lang sein und ist oft wichtiger als die Strafe selbst, weil es oft ein Jahrzehnt dauert, bis die Strafe verhängt wird. Die Verfahren sind sehr langsam. Die lateinamerikanische Justiz ist sehr ineffizient.
Das hört sich nach strukturellem Reformbedarf an.
Ja. Die Progressiven in Lateinamerika sehen in einer Justizreform eine der großen Aufgaben. In Lateinamerika haben wir Richter, die Millionäre sind, die wie Könige in Palästen leben, während die normale Bevölkerung verarmt ist und in prekären Verhältnissen lebt, wie man in Peru sehen kann. Castillo stammt aus einer Bergregion, aus einer armen Gegend in Peru und nicht aus der Elite. Jetzt ist er auf unbestimmte Zeit inhaftiert.
Castillos Amtsenthebung ist umstritten.
Sie ist sogar ungültig, er dürfte gar nicht inhaftiert sein. Castillo wurde mit 101 Stimmen seines Amtes enthoben, obwohl die Verfassung und die Geschäftsordnung des Kongresses festlegen, dass mindestens 104 Stimmen erforderlich sind, um einen Präsidenten abzusetzen. Das heißt, die Amtsenthebung ist verfassungswidrig. Deshalb sagen wir, dass es dann auch kein Strafverfahren geben kann. Wir hoffen, dass die Vereinten Nationen dies anerkennen und Castillo, den einzigen legitimen Präsidenten Perus, wieder einsetzen.
Der Prozess gegen Pedro Castillo begann am 4. März 2025. Er wird wegen Rebellion, Amtsmissbrauch und schwerer Störung der öffentlichen Ordnung nach seinem gescheiterten »Putsch« im Dezember 2022 angeklagt und muss mit einer Freiheitsstrafe von bis zu 34 Jahren rechnen. Wie verläuft das Gerichtsverfahren bisher?
Wir, seine internationalen Anwälte um Eugenio Raúl Zaffaroni (ehemals Richter am Bundesgerichtshof in Argentinien und am Interamerikanischen Gerichtshof, d. Red.) empfehlen ihm ein Juicio de ruptura (Aufhebungsklage nach spanischem Recht, d. Red.). Castillo sollte darauf pochen, dass das Strafverfahren nicht rechtmäßig ist, genauso wie die Untersuchungshaft. Bisher scheint er unserem Vorschlag zu folgen und die Rechtmäßigkeit infrage zu stellen.
Sehen Sie hier einen Fall von politischer Justiz?
Klar. Das gesamte Verfahren ist verfassungswidrig und ein Fall von Rassismus gegen den ersten Präsidenten aus einer ländlichen Region in der Geschichte Perus. Die Elite in Lima will keinen Präsidenten aus den Bergen. Der Kongress, der vom Fujimorismo (Anhänger des Ex-Diktators Alberto Fujimori, 1990-2000, d. Red.) dominiert wird, ist die tatsächliche Macht in Peru. Keiko Fujimori, die Tochter von Alberto Fujimori, verlor im zweiten Wahlgang gegen Pedro Castillo, hat aber im Kongress die Kontrolle. Castillos Politik wurde blockiert. Heute hat die Regierung der nicht von der Bevölkerung gewählten Dina Boluarte eine Ablehnungsrate von über 90 Prozent. Laut Umfragen hat Castillo mit mehr als 30 Prozent immer noch den größten Rückhalt in der Bevölkerung. 2026 stehen turnusmäßig Präsidentschaftswahlen an, bei denen Castillo antreten würde, so er dürfte. Deshalb wird er inhaftiert. Mit willkürlichen Vorwürfen.
Wie positioniert sich das Oberste Gericht in Peru zum Fall Castillo?
Sehr interessant ist der Euphemismus, den die obersten Richter verwenden. Sie sagen: Es ist wahr, dass der Kongress verfassungswidrig gehandelt hat. Dennoch soll legitimiert gewesen sein, das zu tun. Einerseits sagen sie, dass Castillo das Parlament nicht auflösen konnte, weil Vertrauensabstimmungen ausstanden. Andererseits sagen sie, der Kongress musste Castillo stürzen, weil es sonst zu einem Staatsstreich durch Castillo gekommen wäre.
Wie schauen Lateinamerikas Regierungen auf den Fall?
Das gesamte progressive Spektrum in Lateinamerika unterstützt die Sache von Castillo. Mexiko und Kolumbien stehen in der ersten Reihe der Verteidiger, auch Bolivien und Honduras machen sich für Castillo stark. Sie sagen, dass er Opfer eines Staatsstreichs geworden ist.
Was ist mit Luiz Inácio »Lula« da Silva, dem einflussreichen Präsidenten Brasiliens?
Lula schweigt. Er ist nicht mehr der gleiche Lula wie vor zehn oder 15 Jahren. Es sieht so aus, als ob die Haltung des konservativeren Außenministeriums die seine Haltung beeinflusst hat. Lulas Schweigen ist gravierend. Erstens, weil er selbst Opfer der brasilianischen Justiz war, als ihn 2017 Sergio Moro, damals Bundesrichter, ins Gefängnis schickte und Lula deshalb 2018 nicht bei den Wahlen gegen den ultrarechten Jair Bolsonaro antreten konnte. Danach ernannte Bolsonaro den Richter, der Lula ins Gefängnis gesteckt hatte, zum Justizminister. Damit wurde die mangelnde Unabhängigkeit dieses Richters sehr deutlich. Lula ist sich sehr wohl bewusst, wie das Justizsystem in Lateinamerika funktioniert. Deshalb ist sein Schweigen zum Fall Castillos schwer nachzuvollziehen.
Haben Sie eine Erklärung?
Brasilien hat viele wirtschaftliche Interessen in Peru. Dort ist 2024 der erste von China kontrollierte Hafen Südamerikas eröffnet worden: der Tiefwasserhafen Chancay. Brasilien ist daran beteiligt und möchte mit China eine Bahn bauen, die alle Güter von Brasilien zum peruanischen Hafen transportiert, um von dort aus Zugang zum Pazifik zu haben. Das würde dem Land ermöglichen, sowohl Zugang zum Atlantik als auch zum Pazifik zu haben. Brasilien hat also geopolitische und wirtschaftliche Interessen, die es über die Kritik an der verfassungswidrigen Absetzung Castillos stellt. Für mich ist das traurig, weil wir Lula unterstützt haben, als er Opfer war. Jetzt nimmt er eine falsche Haltung im peruanischen Fall eingenommen. Lula als politische Figur des Progressivismus auf globaler und regionaler Ebene steht damit infrage. Es ist, als hätte der Aufenthalt im Gefängnis seine Wirkung auf ihn gehabt.
Sie sind inzwischen vor das UN-Menschenrechtskomitee in Genf gezogen. Wie ist der Stand?
Wir haben uns im Juli entschieden, den Fall aus dem interamerikanischen System zu nehmen, weil wir nichts mehr von der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) und dem Interamerikanischen Gerichtshof erwarten. Die blieben seit der Verhaftung untätig. Bei der juristischen Verfolgung von Evo Morales in Bolivien, bei Rafael Correa in Ecuador, bei Lula in Brasilien – die OAS hat nichts unternommen, und sie wird auch bei Pedro Castillo nichts tun. Deshalb haben wir beschlossen, den Fall an die Uno zu übergeben.
Mit welchem Ziel?
Wir wollen, dass die Uno feststellt, dass die bürgerlichen und politischen Rechte von Castillo als Präsident verletzt wurden und die der peruanischen Bürger, die eine Präsidentin haben, die von ihnen nicht gewählt wurde. Unser Hauptziel ist es, Lulas Schweigen im Fall Peru zu brechen.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1194181.peru-lulas-schweigen-ist-gravierend.html