nd-aktuell.de / 21.09.2025 / Berlin

»Palestine on Trial«: Bericht zu Repression gegen Aktivisten

200 Prozesse mit Palästina-Bezug beobachtete eine Gruppe an den Berliner Gerichten – ihr erster Bericht ist nun öffentlich

Jule Meier
Zwei Prozessbeobachterinnen von »Palestine on Trial« (links), Regisseurin Pary El-Qalqili (Mitte) und Rechtsanwalt Benjamin Düsberg
Zwei Prozessbeobachterinnen von »Palestine on Trial« (links), Regisseurin Pary El-Qalqili (Mitte) und Rechtsanwalt Benjamin Düsberg

Am Donnerstagmorgen seien Beamte des Landeskriminalamts in die Wohnung einer palästinensischen Familie in Neukölln eingedrungen. Sie hätten ein 16-jähriges Mädchen gesucht, das in den sozialen Medien das Kennzeichen einer verbotenen Organisation geteilt habe. Da das Mädchen in der Schule gewesen sei, hätten die Beamten sie dort aufgesucht und ihr Handy konfisziert. Pary El-Qalqili berichtet von dem Vorfall, der in den sozial[1]en Medien[2] dokumentiert ist.

Die Berliner Regisseurin El-Qalqili spricht am Freitagabend im Veranstaltungsraum des Kreuzberger Biergartens Jockel. Der Raum ist so voll, dass einige Gäste ihren Kopf durch die Tür stecken müssen, um mithören zu können. Eingeladen hat die Gruppe »Palestine on Trial« (Deutsch: Palästina vor Gericht). Die Gruppe für solidarische Prozessbegleitung veröffentlichte ihren ersten Bericht[3]: 200 Verfahren haben die Aktivist*innen zwischen April 2024 und August 2025 an Berliner Gerichten beobachtet. »Berlins Justiz fungiert als Verlängerung der staatlichen Repression gegen die Palästina-Solidarität«, heißt es darin.

Über 10 000 Ermittlungsverfahren hätte die Berliner Staatsanwaltschaft seit dem 7. Oktober 2023 gegen pro-palästinensische Aktivist*innen eingeleitet, so »Palestine on Trial«. Damit bezieht sich die Gruppe auf die Angaben aus einem Artikel der »Zeit« aus dem August. Ein Sprecher der Berliner Staatsanwaltschaft teilt »nd« mit, dass mit Stand 14. August 2025 über 6000 Verfahren im »Zusammenhang mit ›Nahost‹« vor den Berliner Gerichten geführt werden. Rund 300 davon seien abgeschlossen.

Von den 200 von Palestine on Trial beobachteten Verfahren sind laut Bericht in 140 erste Entscheidungen ergangen. 45 Verfahren seien eingestellt worden, in weiteren 45 seien die Angeklagten freigesprochen worden, heißt es im Bericht. 50 weitere Angeklagte seien verurteilt worden. Die weiteren beobachteten Verfahren sind noch im Gange, weitere Prozesstermine stehen an. Ganz vorbei sind aber auch die Verfahren mit Gerichtsentscheidungen noch nicht. »Diejenigen Verfahren, die mit Freispruch oder Verurteilung enden, werden oft von der Staatsanwaltschaft beziehungsweise der Verteidigung angefochten«, heißt es im Bericht.

Zu den abgeschlossenen Verfahren gehört das gegen die Studentin Matilda, die am Freitag auf dem Podium sitzt. Sie beteiligte sich im Mai 2024 an der Besetzung des Jabalia-Instituts an der Humboldt-Universität. Die Besetzung wurde gewaltsam von der Polizei aufgelöst – es folgten Dutzende Festnahmen und Strafanzeigen. »nd« berichtete über einige der Verfahren[4]. Matilda wurde freigesprochen.

Die Richterin in Matildas Verfahren sei nicht begeistert davon gewesen, dass die Studentin wie viele andere während ihres Verfahrens ein politisches Statement verlas. »Vielleicht sollte man uns an unseren Universitäten sprechen lassen, damit wir das nicht vor Gericht tun müssen«, sagt die Studentin. Ein Schmunzeln geht durch den Raum.

Der Moment der Leichtigkeit scheint für die palästina-solidarische Bewegung bitter nötig. »Während in der Westbank die palästinensische Bevölkerung ausgelöscht wird, wird in Deutschland die palästinsische Perspektive ausgelöscht«, sagt der Rechtsanwalt Benjamin Düsberg auf dem Podium. Er weist darauf hin, dass in keinem anderen Staat die Parole »From the river to the sea, Palestine will be free« strafrechtlich verfolgt wird. Wer die Parole ruft, muss nach wie vor damit rechnen, festgenommen zu werden. Wenngleich es in den von »Palestine on Trial« beobachteten Verfahren keine einzige Verurteilung dafür gab. Verurteilt wurde stattdessen meist wegen Hausfriedensbruch im Kontext von Besetzungen sowie wegen »tätlichen Angriffs« und Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte.

Vom autoritärer werdenden Staat, der mit den Sicherheitsbehörden überwache und mit der Justiz strafe, ist am Freitag mehrfach die Rede. Ein Sprecher des Vereins »3ezwa«, berichtet von den psychischen Folgen für Menschen, die sich öffentlich gegen den mutmaßlichen Genozid in Gaza[5] aussprechen. Viele hätten Angst, den Job zu verlieren. »3ezwa« unterstützt nach eigener Darstellung Menschen, die aufgrund ihrer Solidarität mit Palästina Repressionen ausgesetzt sind.

Als einfaches Rezept gegen Repression rät der Sprecher Aktivist*innen Folgendes: Wer auf einer Demonstration Kontakt mit der Polizei hatte, soll unmittelbar danach und zunächst ohne Kontakt zu anderen ein Gedächtnisprotokoll schreiben. Wichtig sei es, zudem regelmäßig die Mailbox auf dem Telefon abzuhören, da Beamte dort teils Nachrichten mit Fristen hinterließen. Erst wenn ein Brief von der Polizei ankommt, soll man Anti-Repressions-Vereine wie »3ezwa« oder die »Rote Hilfe« kontaktieren. Ein Anwalt brauche man nur dann, wenn Strafbefehl oder Anklage vorliegt.

Die Klagen landen nicht selten auf dem Tisch von Rechtsanwalt Düsberg. Eine derartige Welle an Repression gegen eine soziale Bewegung habe es laut Düsberg in Deutschland zuletzt gegen die kurdische Bewegung in den neunziger Jahren gegeben. Am Freitag hat der Anwalt mit seiner Kollegin Nadja Samour einen Strafantrag[6] bei der Bundesanwaltschaft gestellt. Darin wird unter anderem der ehemaligen Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) und dem ehemaligen Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sowie dem aktuellen Kanzler Friedrich Merz (CDU) Beihilfe zum Völkermord vorgeworfen.

Die Berliner Gerichte dürften wohl auch in den kommenden Jahren mit einer Vielzahl an Prozessen gegen propalästinensische Aktivist*innen beschäftigt sein. Wie viel das die Justiz und Steuerzahler kostet, würde »Palestine on Trial« gern wissen. Außerdem will die Gruppe nicht nur beobachten, sondern auch politisch mitmischen. Sie fordert »Konsequenzen für alle Akteur*innen dieser organisierten Repression – für Polizeibeamt*innen, Staatsanwält*innen, Richter*innen, Universitäten und Regierungsverantwortliche, die öffentliche Gelder missbrauchen und Palästina-Solidarität kriminalisieren.«

Allem voran fordert sie die »sofortige Beendigung der politisch motivierten, voreingenommenen und rassistischen Verfolgung einer Bewegung, die nichts anderes einfordert als grundlegende Menschenrechte: die Befreiung des palästinensischen Volkes, das Ende von Apartheid und völkerrechtswidriger Besatzung im Westjordanland sowie ein Ende der deutschen Komplizenschaft am Völkermord in Gaza.«

Links:

  1. https://www.instagram.com/p/DOyRONQiJbH/
  2. https://www.instagram.com/p/DOyRONQiJbH/?img_index=3
  3. https://ugc.production.linktr.ee/a6bf68a2-a2ab-4d0e-884f-6a5623920d05_20250918-Report-Deutsch-final.pdf
  4. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1188965.gaza-krieg-palaestina-aktive-vor-amtsgericht-berlin-nicht-allein.html
  5. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1194160.protestcamp-in-ulm-elbit-systems-ermoeglicht-den-genozid-in-gaza.html?sstr=genozid
  6. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1194184.krieg-in-nahost-strafantrag-deutsche-minister-hinter-gitter.html?sstr=genozid