Reichen zwölf Minuten aus, um den Dritten Weltkrieg[1] zu provozieren? Diese Frage ist zugegeben polemisch formuliert. Wobei: Hört und liest man viele der Aussagen, die seit Freitag gemacht wurden, wird einem schon anders.
Drei russische Maschinen vom Typ Mig-31 sollen am Freitag in den Luftraum des Nato-Mitlgieds Estland eingedrungen sein, mit ausgeschalteten Transponder und Ziel Tallinn. Das vermeldete das Außenministerium des baltischen Landes. Zum Beweis gab es Fotos irgendwo in der Luft und eine Karte, die illustrieren soll, wie die Migs Nato-Hoheitsgebiet verletzten.
Dass alles genau so ablief, wie Tallinn behauptet, kann durchaus sein. Immer wieder testen russische Flieger die Grenzen internationaler Gepflogenheiten aus und überschreiten sie dabei auch, was man dann nicht so gerne zugibt. So ist es auch jetzt. Moskau bestreitet das Eindringen in den estnischen Luftraum. Alles andere wäre auch wenig ratsam. Einige Tage, nachdem fast zwei Dutzend mutmaßlich russische Drohnen – zufällig oder nicht – nach Polen flogen[2], zuzugeben, dass man jetzt mit größerem Fluggerät Grenzen ausprobiert, würde jedes Vorurteil bestätigen.
Im Westen muss man sich aber auch an die eigene Nase fassen. Denn einzige Quelle des Vorfalls sind estnische Behörden, eine unabhängige Überprüfung gab es bisher nicht. Dabei sollte man auch Angaben aus Nato-Ländern einer Quellenkritik unterziehen. Denn allzu oft müssen die Angaben korrigiert werden oder sie sind gar nicht so brisant, wie zunächst behauptet. So waren die russischen Flieger, die man abfing, fast immer im internationalen Luftraum. Man erinnere sich zudem an die Zeichnungen, die der damalige US-Außenminister Colin Powell zur Rechtfertigung des Irak-Einmarsches präsentierte.
So steht Aussage gegen Aussage. Auch wenn man denen aus Moskau eher weniger Glauben schenkt, würde es vor Gericht heißen: Im Zweifel für den Angeklagten. Doch Richter sind hier weit, Hardliner umso näher. Seit Tagen dürfen vermeintliche und echte Experten in deutschen Medien (die nicht einmal journalistisch sauber der Lauftraumverletzung ein »vermutlich« voransetzen, selbst die Tagesschau nicht) darüber sinnieren, wie Russland uns »testet« und welche »harte« Reaktion die Nato jetzt zeigen muss.
Das alles spielt denjenigen in die Hände, die weiter unverblümt von Kriegstüchtigkeit und massiver Aufrüstung träumen. Schon ist die Rede vom »Drohnen-Schutzwall«, der möglicherweise schon über der Ukraine aktiv wird. Für Manfred Weber, Chef der Europäischen Volkspartei, »der effizienteste Weg, Russland abzuschrecken«. Andere Konservative wie der CDU-Außenpolitiker Jürgen Hardt wollen auch gleich russische Flieger abschießen. Denn: »Jetzt sind es Luftraumverletzungen, bald der Beschuss einzelner Ziele, dann kommen russische Soldaten«, prophezeite Hardt dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Woher er das weiß, sagt er nicht. Muss er auch nicht. Denn es geht einzig und allein darum, Angst zu schüren.
Die größte dieser Ängste hat uns zumindest Ursula von der[3] Leyen genommen. Sie glaube nicht, dass wir uns auf Dritten Weltkrieg zubewegen, sagte die sonst gerne als verbale Scharfschützin auftretende EU-Chefin jetzt. Also, Kommando zurück! Der große Krieg mit Russland fällt erst mal aus.