»My body, my choice – raise your voice!«, rufen zwei Aktivist*innen mit bunten Perücken am Samstagmittag über den Washingtonplatz am Berliner Hauptbahnhof. Zwischen sich halten sie eine Zeltstange zu einem Bogen geformt. Darauf steht: »Wer hier durchläuft, ist queer«. Eine kleine Provokation – gerichtet an die laut Polizeiangaben rund 2200 Demonstrierenden, die sich, abgeschirmt von Gittern und zahlreichen Polizist*innen, am anderen Ende des Platzes um eine Bühne mit grünen Luftballons versammelt haben. Genau wie in Köln findet hier an diesem Tag der »Marsch für das Leben« des Bundesverbands Lebensrecht statt.
Mindestens ebenso viele Menschen protestieren in Berlin gegen das Bündnis christlich-fundamentalistischer und rechter Gruppierungen. Sie beteiligen sich an verschiedenen Gegenveranstaltungen: Zum einen an der Kundgebung der Bündnisse »What the Fuck?!«[1] und »Make Feminism a Threat«[2] am Europaplatz auf der anderen Seite des Hauptbahnhofs. Zum anderen an der Demonstration des »Bündnisses für sexuelle Selbstbestimmung«, die am nahe gelegenen Paul-Löbe-Haus startet. Hinzu kommt eine Straßenblockade, die sich dem später durch Mitte ziehenden »Marsch« in den Weg stellt.
Denn die »Fundis« – wie die Fundamentalist*innen von den Protestierenden genannt werden – fordern, dass Schwangerschaftsabbrüche zukünftig nicht mehr straffrei möglich sind. »Das würde dem Leben ungewollt Schwangerer großen Schaden zufügen«, sagt Annika Kreitlow vom »Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung« dem »nd«. Dass es vor dem Regierungswechsel nicht mehr gelungen ist, den Paragrafen 218 des Strafgesetzbuches abzuschaffen, der Abtreibungen bis heute verbietet – sie sind nur unter bestimmten Bedingungen straffrei –, hält sie für »eine Katastrophe«. Kreitlow ist Ärztin, führt regelmäßig Schwangerschaftsabbrüche durch und weiß, wie sehr Betroffene unter den hohen Hürden und dem Stigma der Abtreibung leiden.
Dabei spricht sich laut einer Umfrage des Bundesfamilienministeriums eine deutliche Mehrheit der Deutschen – 74 Prozent – für die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen aus. Die Fundamentalist*innen, die mit Heiligenbildern und Marienstatuen zur Demo kommen, verträten Minderheitenpositionen, würden aber von rechten Netzwerken so gut finanziert, dass sie den Diskurs bestimmen können, warnt Kreitlow mit Verweis auf die Kampagne gegen die Verfassungsgerichtskandidatin Frauke Brosius-Gersdorf.
So hat die rechtskonservative Stiftung Citizen Go zum »Marsch für das Leben« aufgerufen, die international gegen sexuelle Selbstbestimmung lobbyiert; auch AfD-Politiker*innen wie Beatrix von Storch laufen mit. Einige Teilnehmende solidarisieren sich mit dem in den USA getöteten Rechtsextremisten Charlie Kirk, wie zuvor schon Cornelia Kaminski, Vorsitzende des Vereins »Aktion Lebensrecht für Alle« und Teil des Bundesverbands Lebensrecht. Sie vergleicht die Ermordung sogar mit den Protesten gegen den »Marsch für das Leben«.
Ella Nowak, Sprecherin des What-the-fuck-Bündnisses, sieht in dem vermeintlichen Einsatz für ungeborenes Leben nur eine Tarnung für patriarchale, queerfeindliche und rechte Politik. Entsprechend geht es bei der Demo am Europaplatz nicht nur um die Abschaffung des Paragrafen 218. »Wir wollen eine queerfeministische Zukunft, in der alle Geschlechter und Sexualitäten frei gelebt werden können«, erklärt Nowak gegenüber dem »nd«. Das Gegenteil könne man aktuell in Ländern wie Polen oder den USA beobachten, wo den Menschen inzwischen nicht nur der Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen, sondern auch zu geschlechtsangleichenden Operationen verwehrt wird. »Das macht total Angst«, sagt Nowaks Mitstreiterin Cléo Spergel von »Make Feminism a Threat«.
Mit Narrativen von Lebensschutz und christlichen Werten versucht der Bundesverband Lebensrecht gezielt, die »bürgerliche Mitte« zu erreichen. So engagiert er sich auch gegen Pränataldiagnostik, Leihmutterschaft und Sterbehilfe – und wirbt für sich mit Fotos von Kindern mit Trisomie 21. »Das ist eine Instrumentalisierung von Menschen mit Behinderungen«, findet Nowak. Zumal der Verband sich in keiner Weise für eine barriereärmere Gesellschaft einsetze.
Für Daniel ist das der Hauptgrund, aus dem er zur Demo am Europaplatz gekommen ist. »Es ist ableistisch, sich nur für den ungeborenen Fötus zu interessieren, aber mit Parteien zu marschieren, die sich nicht für lebende behinderte Menschen einsetzen«, sagt er dem »nd«. Unter anderem hat Thüringens AfD-Chef Björn Höcke Inklusion als »Ideologieprojekt« bezeichnet. Generell stehen die Bündnisse »What the Fuck?!« und »Make Feminism a Threat« Parteien kritisch gegenüber; Politiker*innen sind bei ihrer Kundgebung nicht erwünscht.
Dagegen gehören zum »Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung« neben Gewerkschaften, den Omas gegen Rechts sowie Verbänden wie »Pro Familia« und »Doctors for Choice« auch SPD, Grüne und Linke. Deren Vertreter*innen halten im türkis und lila geschmückten Lautsprecher-Wagen am Paul-Löbe-Haus sogar die ersten Reden. Kathi Gebel, die frauenpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, kritisiert die Aussage des bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU), ein Deutschland ohne Autos sei wie »eine Frau ohne Unterleib«: Damit habe er Frauen »auf ihre Gebärfähigkeit« reduziert und stehe den »Fundis« in nichts nach.
Zwei junge Brandenburgerinnen, die zur Demo des Bündnisses gekommen sind, treibt ebenfalls der Rechtsruck und die damit verbundene Queerfeindlichkeit um. In ihrem Heimatort würden queere Menschen regelmäßig zusammengeschlagen. »Da fühle ich mich nicht mehr sicher«, sagt eine von ihnen zum »nd«. Kurz bevor die Demo sich auf ihren Weg durch Mitte zum James-Simon-Park macht, gerät der »Marsch für das Leben« in Sichtweite: Auf der anderen Spree-Seite zieht dieser am Kapelle-Ufer entlang. »Fundamentalismus raus aus den Köpfen!«, rufen die Gegendemonstrant*innen ihnen zu.