nd-aktuell.de / 22.09.2025 / Politik

»Es war nicht immer leicht ...auch mit den Jungs«

Petra Pau blickt zurück auf den 3. Oktober 1990 und was danach geschah

Interview: Karlen Vesper
Sie ist die Rekord-Vizepräsidentin: Petra Pau, 2022 im Bundestag
Sie ist die Rekord-Vizepräsidentin: Petra Pau, 2022 im Bundestag

Frau Pau, wie haben Sie den 3. Oktober 1990 erlebt?

Ich verbinde mit dem Datum keine besonderen emotionalen Erinnerungen. Ich war weder am Brandenburger Tor noch am Reichstagsgebäude. Wir, also eine kleine Gruppe junger Genossen und Genossinnen in Berlin-Hellersdorf, haben uns am Nachmittag getroffen, die bisherigen Ereignisse reflektiert und diskutiert, was kommen mag. Da war auch Wein im Spiel. Ich habe weder Freuden- noch Wehmutstränen vergossen. Das Datum war für mich nicht so relevant, ein formaler Akt ging an jenem Tag über die Bühne. Viel spannender war die Zeit davor, vor allem der Herbst 1989. Die Verhältnisse standen auf dem Kopf, das Volk rebellierte, die Opposition regierte über den Runden Tisch, es entstand ein neuer Verfassungsentwurf. Egal, wo man unterwegs war in der DDR, überall passierte etwas. Die Menschen wollten ihre Geschicke selbst in die Hand nehmen. Ich war damals, bis zum Sommer 1990, damit beschäftigt, die staatliche Kinderorganisation der DDR, »abzuwickeln«, ein Wort, das ich damals erst kennenlernte.

Wer hat Ihnen den Auftrag dazu gegeben?

Ich war Mitarbeiterin im Zentralrat der FDJ, Abteilung Junge Pioniere. Die erste Berufsbezeichnung, die in der DDR gestrichen wurde, schon im November ’89, war die der Freundschaftspionierleiterin oder des Freundschaftspionierleiters. Manche meinten, ihre Auseinandersetzung mit der SED und dem Schulsystem der DDR auf dem Rücken der zumeist jungen Frauen austragen zu können.

In der Kritik war die Ideologisierung der Kinderbetreuung und Erziehung.

Die Verantwortung dafür trugen aber nicht diese jungen Frauen. Ich war nun also, vom Herbst ’89 bis zum Sommer ’90 mit einer Kollegin dafür zuständig, die Aus- und Weiterbildungsstätten für Pionierleiter an eine neue Trägerschaft zu vermitteln und den rund 4000 Studierenden neue Perspektiven zu geben. Zur Ausbildung als Pionierleiter gehörte auch ein pädagogisches Studium, als Lehrer oder Lehrerin in zwei Grundschulfächern.

Sie selbst sind studierte Deutschlehrerin und Kunsterzieherin?

Ja. In der Regel sind diese Pionierleiterinnen oder Pionierleiter nach vier, fünf Jahren aus diesem Beruf ausgeschieden und haben als Lehrerinnen oder Lehrer weitergearbeitet oder auch als stellvertretende Direktorinnen für außerschulische Bildung. Wir haben versucht zu ermöglichen, dass die Studentinnen und Studenten der abgewickelten pädagogischen Einrichtungen der Pionierorganisation, darunter das Zentralinstitut der Pionierorganisation in Droyßig, andernorts eine vollständige Lehrerausbildung aufnehmen konnten. Außerdem ging es um die Zukunft der vielfältigen Einrichtungen, die der Kinderorganisation zur Verfügung standen, darunter die Pionierrepublik am Werbellinsee, die es noch heute als Kinderparadies gibt, ein viel besuchtes Jugendzentrum.

Eines der wenigen positiven Beispiele kultureller und sportlicher Freizeitangebote aus der DDR, die über die Vereinigung hinaus gerettet werden konnten.

Und in Dobbertin konnten wir über intensive Verhandlungen am Runden Tisch die ehemalige Weiterbildungseinrichtung für Pionierleiter einem neuen, gemeinnützigen Zweck zuführen, es ist bis heute ein Pflegeheim, Pflegebedürftige müssen ihren Heimatort nicht mehr verlassen. Als alles getan war, habe ich mich im Sommer 1990 selbst entlassen. Es war dann auch keiner mehr da, im Haus Unter den Linden, in dem der FDJ-Zentralrat saß.

Sie wurden arbeitslos.

In meiner Naivität dachte ich: Dann gehe ich zurück in den Schuldienst. Aber nach dem 3. Oktober 1990 wurden keine Lehrerinnen und Lehrer aus dem Ostteil der Stadt mehr eingestellt, im Gegenteil, massenweise entlassen. Die Lehrer im Westteil waren beamtet, was man den Ostkollegen nicht gönnen wollte, offenbar auch, um die Stadtkasse nicht zu belasten. Heute weiß ich, dass ich zudem erst mal hätte nachweisen müssen, dass ich lesen, rechnen und schreiben kann. Die Vorurteile gegen die Lehrerausbildung in der DDR waren groß. Und auch andere Studiums- und Berufsabschlüsse wurden zunächst gar nicht anerkannt. Da musste beispielsweise eine 50-jährige Unterstufenlehrerin noch einmal zwei Jahre an der Humboldt-Uni die Schulbank drücken, um weiter als Mathelehrerin arbeiten zu können. Jedenfalls war der 3. Oktober für mich nicht das entscheidende Datum, sondern eher der 4. November ’89, die Großdemonstration auf dem Alexanderplatz, und vor allem der 18. März ’90, die Wahl zur neuen und letzten Volkskammer der DDR. Da war schon klar, dass der Zug in Richtung Vereinigung der beiden deutschen Staaten rollte, aber keiner wusste, wann sie kommt und wie sie kommt. In dem Ende August unterzeichneten und dann im September von den beiden deutschen Parlamenten, Bundestag und Volkskammer, beschlossenen Einigungsvertrag ist sie als Beitritt, besser gesagt: als Anschluss der DDR an die Bundesrepublik geregelt worden.

Und Sie wagten dann den Schritt in die Politik.

Ich war schon eine Weile ehrenamtlich politisch tätig. Anfang April ’90 klingelte es bei mir, eine kleine Abordnung der Hellersdorfer PDS stand vor meiner Wohnungstür, darunter der spätere Bezirksbürgermeister Uwe Klett: »Wir haben gehört, du hast was mit Schule und Kultur zu tun. Willst du nicht für uns kandidieren?« Die Kommunalwahlen standen an. Am folgenden Wochenende gab es eine Delegiertenkonferenz, meine Nominierung wurde bestätigt und ich wurde dann auch gewählt, wurde unter anderem Schriftführerin im Ausschuss für Straßenumbenennungen.

Um diese gab es damals wilde Debatten. Namen ermordeter Antifaschisten, die Kommunisten waren, sollten getilgt werden.

Auch sozialdemokratische Namen waren teilweise nicht mehr erwünscht. Bei uns ging es unter dem Ausschussvorsitzenden von der CDU, unter Einbeziehung des Ortschronisten (er war in der SPD), gesittet zu. Wir konnten viel Unfug verhindern. So wollten einige die Straßen durchnummerieren.

Wie in New York oder Mannheim?

Ja. Andere wiederum wollten die Straßen nach Sternenbildern oder Blumen benennen. Hellersdorf war damals noch nicht fertig gebaut, es kamen noch viele neue Straßen hinzu. Ich bin noch heute stolz darauf, dass wir einen Alice-Salomon-Platz durchgesetzt haben, wo sich heute die gleichnamige Hochschule befindet. Und die Janusz-Korczak-Straße, mit der wir den polnischen Pädagogen und Kinderbuchautor würdigten, der seine Zöglinge des jüdischen Waisenhauses nicht im Stich ließ, sie begleitete, als sie von den Nazis ins Vernichtungslager deportiert wurden und der auch, 1942, in Treblinka starb. Na klar, Heinz Hoffmann verlor »seine« Straße und »seine« U-Bahnstation. Der ehemalige DDR-Verteidigungsminister lebte da noch. Ich bin auch froh, dass wir dem Nazigegner und Christdemokraten Heinrich Grüber eine Straße widmeten; er ist 1975 gestorben. Es ist nicht alles gut ausgegangen, aber im Großen und Ganzen war es eine ehrliche Auseinandersetzung. Die Entscheidungen fielen bei uns zumeist im überparteilichen demokratischen Konsens. Und wir waren uns einig: keine lebenden Persönlichkeiten.

Schließlich wurden Sie dann aber Berufspolitikerin. Bewusste Entscheidung oder eher zufällig?

Eher zufällig. Da ich damals erwerbslos war, habe ich noch ein Fernstudium aufgenommen: Betriebswirtschaft – allerdings nicht abgeschlossen (lacht). Zum Grundstudium in der DDR gehörte die Politische Ökonomie des Kapitalismus, wir kannten uns theoretisch aus, nun hatten wir die Praxis. Vieles an der Theorie stimmte, manches erwies sich als schlimmer als gedacht. Jedenfalls hatte ich ziemlich viel zu tun. Alles nebenbei und ehrenamtlich, Bezirksverordnete und dann PDS-Bezirksvorsitzende. Als ich im Herbst 1991 stellvertretende Landesvorsitzende wurde, war das mit einer festen Anstellung verbunden. Ich sollte mich um Öffentlichkeitsarbeit kümmern und André Brie die »westlichen Streitkräfte« vom Hals halten.

Wie bitte?

Die westlichen PDS-Verbände, die ihren eigenen Willen hatten. Ein Streitpunkt war zum Beispiel: Opponieren oder Regieren? Gesine Lötzsch und ich haben gemeinsam mit André, dem Berliner PDS-Vorsitzenden, zwischen Weihnachten und Silvester ’91 ein grünes und ein weißes Papier für den anstehenden Parteitag zu einer Vorlage geeint. Ich bin manchmal erstaunt, wie viele Debatten, die wir damals geführt und scheinbar geklärt hatten, später immer wieder aufbrachen. Vieles wiederholt sich im Laufe der Zeit. Damals lautete die Frage: Wollen oder sollten wir Bürgermeister stellen? Der politische Gegner war natürlich dagegen. Klaus Rüdiger Landowsky von der CDU und andere versuchten, mit allen Mitteln dies zu verhindern, etwa durch die Bezirksfusion oder die Schaffung von Zählgemeinschaften. Die PDS war Mitte der 90er Jahre in den Bezirken sehr stark präsent. Aber um auf Ihre vorherige Frage zurückzukommen: Wenn mir damals jemand vorausgesagt hätte: »Du wirst mal Bundestagsabgeordnete, Bundestagsvizepräsidentin und sogar die Dienstlängste im Bundestagspräsidialamt seit 1949 – im vergangenen Jahr habe ich Annemarie Renger von der SPD überholt, denjenigen oder diejenige hätte ich zum Arzt geschickt. Ich musste immer ran, wenn die Jungs Mist gebaut haben.

Welche »Jungs«?

Die an der Parteispitze. Im Oktober 1992 musste ich nach dem Rücktritt von André Brie über Nacht den Landesvorsitz übernehmen. Auf dem folgenden außerplanmäßigen Parteitag wurde ich zur Landesvorsitzenden gewählt. Ich hatte mich vorab um andere Kandidaten bemüht, es fand sich aber keiner bereit. Ich vermute, damals dachten sich viele: »Wir nehmen jetzt die junge Frau, die keinen Ärger bereiten wird und auch nicht vorbelastet ist. Wenn sich dann alles wieder beruhigt hat, schieben wir sie beiseite.« Ich war dann allerdings doch ziemlich lange in dieser Funktion, auch hier Dienstälteste. Erst viel später folgten mir Stefan Liebich und Klaus Lederer.
In den Bundestag gelangte ich übrigens auch, weil die Jungs wieder etwas verbockt hatten. 1998 wollte Stefan Heym nicht mehr kandidieren. Da stand die Frage: Wer folgt auf den charismatischen Schriftsteller im Wahlkreis Mitte/Prenzlauer Berg? Die Parteispitze glaubte mit Elmar Schmähling einen guten Kandidaten gefunden zu haben, ehemaliger Flottenadmiral der Bundeswehr und inzwischen friedensbewegt unterwegs. Nur hatte dieser vergessen, mitzuteilen, dass er im bürgerlichen Leben ein paar Insolvenzen hingelegt hatte und gegen ihn ermittelt wurde. Er war schon nominiert, als das publik wurde. Da musste ich einspringen. Meine Konkurrenten im Bezirk waren schon längst auf Wahlkampftour, Wolfgang Thierse und Marianne Birthler. Ich habe zur eigenen Überraschung und zur Verwunderung der anderen gewonnen, damals noch knapp vor Thierse. Bei späteren Wahlen hatte ich immer einen bequemen Vorsprung.

Hatten Sie den Eindruck, dass auch die PDS patriarchalisch strukturiert war, obwohl deren in der DDR sozialisierte Gründungsväter emanzipierte Frauen gewohnt waren?

Na ja. Wir Frauen hatten einigen Streit auszufechten. Es war generell eine Zeit des Suchens und sich Findens, gesamtgesellschaftlich und in der Partei, im Allgemeinen und im Besonderen.

Die 90er Jahre waren auch die Zeit der Parteitage in mehreren Fortsetzungen, gleich Telenovelas.

Viele programmatische und parteipolitische Debatten wurden geführt. Die Berliner wurden von den Landesverbänden mitunter misstrauisch beäugt: Was machen die da in Berlin wieder? Es ging um die personelle Zusammensetzung der Führungsspitzen, gemischt Ossis und Wessis. Und wie viele sind aus der Opposition in den Parteigremien vertreten und wie viele von jenen, die schon in der DDR in politischer Verantwortung waren und inwieweit sich diese mit ihrer Biografie auseinandergesetzt haben. Ein anderes Beispiel: Vor den Wahlen zu den Bezirksverordnetenversammlungen und dem Abgeordnetenhaus 1995 haben wir Konzepte für den öffentlichen Dienst und Sicherheit in Berlin ausgearbeitet. Das gefiel vielen Genossen nicht, die noch prinzipiell gefremdelt haben mit der Polizei und anderen Sicherheitsdiensten. Jedenfalls bin ich ins Berliner Abgeordnetenhaus gewählt worden. Damals habe ich zum ersten Mal einen Berliner Wahlkreis direkt gewonnen – gegen Elmar Pieroth von der CDU und Wirtschaftssenator.

Und »Weinpanscher«, der zudem bei seiner Diplomarbeit gemogelt haben soll. Und der von Ihnen erwähnte Landowsky war 2001 im Berliner Bankenskandal verwickelt. Die CDU dürfte die skandalträchtigste Partei der Bundesrepublik sein.

Das ist für mich mittlerweile die AfD. Pieroth und ich haben immerhin Geschichte geschrieben.

Wie das?

Wir bestritten damals im Kulturforum Hellersdorf, moderiert von Erich Böhme, dem Erfinder der Talkshow im deutschen Fernsehen und Herausgeber der »Berliner Zeitung«, das allererste Podiumsgespräch zwischen einem CDU-Politiker und einer PDS-Abgeordneten. Und das zu einer Zeit, als die von Pfarrer Hinze angestoßene Rote-Socken-Kampagne auf Hochtouren lief, um solchen Dialog zu verunmöglichen, nicht nur seitens der CDU, auch der SPD und anderer Parteien.

Woraufhin eine Oma rote Söckchen strickte, die zum trotzigen Symbol der Gegenoffensive wurden.

Unter anderem. Jedenfalls kriegte Pieroth Ärger in seiner Partei: Mit Kommunisten redet man nicht. Und ich kriegte Ärger in meiner Partei: Mit dem Klassenfeind redet man nicht. Dieser hat dann noch versucht, unsere Partei über den fiskalischen Weg auszubremsen: mit einer Forderung nach Steuerzahlung von über 67 Millionen D-Mark. Da sind Gregor Gysi und Genossen in den Hungerstreik getreten, worauf eine unverhältnismäßige polizeiliche Räumung folgte.

Per Steuerbescheid Unliebsame aus dem Weg zu räumen, scheint Usus in der Bundesrepublik, derart wollte man vor einigen Jahren auch die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten liquidieren.

Auch mit der Behauptung angeblicher Verfassungsfeindlichkeit.

Sie wurden und werden zum Reformflügel der PDS gezählt. Sehen Sie sich auch als Reformerin?

Ich wurde in so viele Schubläden gesteckt, sogar als Stalinistin. »Ost-Trotz-Rotz-Löffel« hat die »Taz« mich mal betitelt.

Innerhalb der eigenen Partei stieß manche Erklärung von Ihnen zu historischen Ereignissen auf Widerspruch, so zur Mauer.

23. August 1990: Die letzte Volkskammer stimmt für den Beitritt zur BRD
23. August 1990: Die letzte Volkskammer stimmt für den Beitritt zur BRD

Ich bleibe dabei: Man darf die Bürger und Bürgerinnen nicht davon abhalten, sich ihre Weltanschauung durch Anschauen der Welt zu bilden. Spätestens ab dem ersten Tag nach dem Mauerbau hätte man anfangen müssen, darüber nachzudenken, wie man freizügige Reiseregelungen trifft. Mein erster Freund musste seinen Wehrdienst an der Grenze absolvieren. Er hatte eine Heidenangst, irgendwann gezwungen zu werden, auf jemanden zu schießen. Ich halte das damalige Grenzregime nach wie vor für falsch. Wichtig war mir auch die Erklärung, die Gabi Zimmer als Bundesvorsitzende und ich von Berlin 2001 zu den Zwängen bei der Vereinigung von KPD und SPD im April 1946 in der sowjetischen Besatzungszone veröffentlicht haben. Da wurde mir unterstellt, das hätten wir nur gemacht, weil wir dann 2002 die erste Rot-Rote Koalition schmieden wollten. Als wir diese Erklärung unterschrieben, wussten wir aber nicht, dass die Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus vorgezogen werden würden.

Was hat mehr weh getan, die Pöbeleien der politischen Gegner oder aus den eigenen Reihen?

Oftmals aus den eigenen Reihen. Manches hat wehgetan. Der ehrenwerte Hans Modrow hat mir Passagen in seinen Büchern gewidmet, zugleich hatten wir auch sehr gute Gespräche, bis zum Schluss. Bei anderen arteten Meinungsverschiedenheiten in heftiger Feindschaft aus. Zum Beispiel beim Thema Antisemitismus, wo wir auch immer wieder die gleichen Debatten führen. Antisemitismus ist, egal aus welcher Quelle, ein furchtbares Gift, gefährlich gerade in der deutschen Gesellschaft mit ihrer Vergangenheit. Es ist nicht gerechtfertigt, Juden weltweit für die Politik der israelischen Regierung verantwortlich zu machen. In Israel selbst gibt es heftige Kritik und Demonstrationen gegen das Kabinett von Benjamin Nethanjahu. Auch die Linke muss diese Regierung kritisieren dürfen.

Mittlerweile wird das selbst in konservativen Kreisen so gesehen, wofür einstmals Linke öffentlich geprügelt wurden. Apropos: Im Bundestag hat die Linkspartei vieles als erste Fraktion angestoßen, was nach Jahren empörten Ablehnens von den anderen Parteien dann doch angenommen wurde, wie etwa der Mindestlohn. Diese Vorreiterrolle spiegelt sich aber leider nicht adäquat in Wählerstimmen wider.

Ich könnte viele Beispiele anführen, wo die Linken vorneweg waren. Ja, wir haben den ersten Antrag zum Mindestlohn im Bundestag eingereicht, nur anderthalb Gewerkschaften haben uns unterstützt: die Gewerkschaft für Nahrungs- und Genussmittel – völlig klar, hier gibt es die meisten Unterbezahlten, Saisonarbeiter vor allem. Und die IG Bau, die mit dem Problem der Schwarzarbeit und Schlecht-Wetter-Geld-Zulagen zu kämpfen hat. Ebenso waren wir bei historischen Themen die ersten, so bei der Entschädigung der Zwangsarbeiter zur NS-Zeit und der Gründung einer entsprechenden Stiftung.

Und bei der Rehabilitierung der Wehrmachtsdeserteure.

Ja. Ich bin unter anderem Mitglied des Kuratoriums Stiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur, in dem anfänglich Dieter Keller für die PDS saß. Auch er wurde aus den eigenen Reihen angefeindet. Es war aber ungeheuer wichtig, dass wir uns als PDS darauf eingelassen haben. Das muss auch die Westlinke tun. Sie hat ebenso eine Geschichte, die sie aufarbeiten muss. Da hatte ich manchen Disput mit Oskar Lafontaine. Und mit anderen Jungs, die bei der Gründung der Partei Die Linke aus dem Westen zu uns stießen und meinten, das ginge sie alles nichts an, unsere kritische und selbstkritische Geschichtsaufarbeitung für übertrieben und unnütz hielten. Sie ist nach wie vor wichtig. Es gibt kein Zurück vor dem Bekenntnis des Sonderparteitages der SED/PDS im Dezember 1989, als Michael Schumann in seinem Referat verkündete: »Wir brechen unwiderruflich mit dem Stalinismus als System!« Dem müssen wir uns stellen, gerade angesichts der erfreulich wachsenden Mitgliederzahl, der vielen jungen Leute, die all das nicht erlebt haben. Historisches Wissen und politische Bildung sind wichtig. Ich werde da nicht nachlassen, auch wenn ich manchmal glaube, aus den Gesichtern der jungen Genossen und Genossinnen zu lesen: »Was erzählt uns die Oma da wieder?«

Diese Kampagne ging nach hinten los: CDU-Generalsekretär Peter Hintze warnt 1994 vor gefährlicher Fußkleidung
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Stichwort Bildung. Wenn Sie das Bildungssystem der DDR und der Bundesrepublik vergleichen müssten, wie fiele Ihr Urteil aus?

Auch darüber könnte ich unendlich lange reden. Nicht nur über die Schulbildung, auch die Anerkennung der Kindergärten/Kitas als pädagogische Einrichtungen und nicht nur Aufbewahrungsstätten. Ich habe es erlebt, dass Delegationen aus Skandinavien durch DDR-Schulen gingen, heute reist man nach Finnland, um ein modernes Bildungssystem zu studieren. In der DDR war vor allem aber Bildungsgerechtigkeit garantiert. Bildung, Ausbildung und Studium waren nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängig. Mich macht die scheinheilige Debatte jetzt um das Bürgergeld wahnsinnig. Das erinnert mich an Hartz IV, das 2003 eingeführt wurde, als Gesine und ich für die PDS allein im Bundestag saßen ...

... am Katzentisch.

Wir hatten anfangs noch nicht mal einen Tisch. Die Folgen der »Agenda 2010« eines gewissen Peter Hartz und seines Duzfreunds, Bundeskanzler Gerhard Schröder, beide Sozialdemokraten (!), der Umbau und Abbau der Sozialsysteme haben mich seither während meines ganzen Abgeordnetenlebens im Bundestag beschäftigt. Sie betrafen fast alle gesellschaftlichen Bereiche.

Manch einer erinnert sich vielleicht noch, dass wir für den Eintritt in eine Arztpraxis bezahlen mussten. Und jetzt erleben wir genau dieselben Debatten rund ums Bürgergeld. Die Denunziation von Menschen, die schon am unteren Ende der sozialen Hierarchie stehen, ist unsäglich. Das schürt Angst, spaltet die Gesellschaft, treibt manche den Rechten zu und bringt eine neue Krise hervor zu den vielen, die wir schon haben: Finanzkrise, Wirtschaftskrise, Klimakrise ... Konflikte und Kriege weltweit. Und nebenbei: Das kratzt weiter am Ansehen der Berufspolitiker.

Inwiefern?

Als ich das letzte Mal eine Bundestagssitzung geleitet habe, wünschte ich mir in meiner Abschiedsrede verantwortungsvolle und selbstbewusste Parlamentarier und Parlamentarierinnen, die Diskussionen auch innerhalb ihrer Fraktionen nicht scheuen. Es kann doch nicht sein, dass ein Bundeskanzler oder andere Bundespolitiker vor die Menschen tritt und sagt: Wir können uns den Sozialstaat nicht mehr leisten. Das schafft Unruhe und Unfrieden, schürt Misstrauen und schwächt auch die Glaubwürdigkeit aller demokratischen Parteien. Ich mache mir große Sorgen angesichts der bevorstehenden Landtagswahlen. Wir haben mit der Verdreifachung der Stimmen der AfD vergangenes Wochenende in Nordrhein-Westfalen einen bitteren Vorgeschmack erhalten.

Was kann man tun, um der zunehmenden Skepsis und gar Feindschaft gegenüber der Demokratie und demokratischen Institutionen zu begegnen?

Vor allem auf Bildung setzen. Überzeugungsarbeit leisten. Als Politiker ehrlich agieren. Und man sollte vielleicht die Bürgerräte wiederbeleben, die seinerzeit Wolfgang Schäuble angeregt hatte und von denen ich lange nichts mehr gehört habe. In der Koalitionsvereinbarung der jetzigen Bundesregierung wird versichert, sie weiterzuführen. Das wäre gut.

Das Fazit Ihres Politikerinnenlebens?

Ich bin dankbar, dass ich so vielen interessanten Menschen begegnen konnte. Sie haben meinen Horizont erweitert und mein Leben bereichert. Und dass ich auch etwas bewegen konnte, beispielsweise bei der Aufklärung der NSU-Morde. Ich war Obfrau des ersten und des zweiten NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestages. Wir waren uns über Parteigrenzen hinweg einig: größtmögliche, schonungslose Aufklärung. Das sind wir den Überlebenden und Hinterbliebenen schuldig. Dazu sind wir verpflichtet im Sinne einer wehrhaften Demokratie.

Am Donnerstag, den 25. September, offeriert Petra Pau im Verein Helle Panke Anekdoten aus 35 Jahre deutsche Einheit (15 Uhr, Kopenhagener Str. 9, Berlin).