nd-aktuell.de / 22.09.2025 / Kultur

Lilo Wanders: »Die Liebe macht alles möglich«

Lilo Wanders spricht über Glück, seine Angst vor der AfD und erklärt, warum er als schwuler Mann mit einer Frau zusammen ist

Interview: Philipp Hedemann
Ernie Reinhardt trägt Frauenkleider so selbstverständlich wie ein Arbeiter seinen Blaumann. Die Verwandlung in Lilo Wanders war lange sein Schutzschild. In der Rolle entfernte er sich ein Stück weit vom Leben.
Ernie Reinhardt trägt Frauenkleider so selbstverständlich wie ein Arbeiter seinen Blaumann. Die Verwandlung in Lilo Wanders war lange sein Schutzschild. In der Rolle entfernte er sich ein Stück weit vom Leben.

Vor mehr als 20 Jahren haben Sie das letzte Mal als Lilo Wanders »Wa(h)re Liebe« moderiert. Stört es Sie, dass Sie für viele Menschen immer noch die Moderatorin dieser Sex-Sendung sind?

Überhaupt nicht! Das ehrt mich! Schließlich habe ich alle, die heute über 35 Jahre alt sind, mit »Wa(h)re Liebe« aufgeklärt. Viele Zuschauerinnen und Zuschauer sind mir dankbar, dass ich ihnen geholfen habe, ihre sexuelle Identität zu finden.

Aber »Wa(h)re Liebe« hat nicht nur aufgeklärt. Ging es nicht vor allem um Voyeurismus, bevor Pornografie immer und überall verfügbar war?

Es ging um beides. Mir war stets bewusst, dass es ein kommerzielles Format war. Deshalb haben wir über Pornodrehs, Swingerclubs, Penisgröße und all diese Dinge berichtet. Ich hatte nie ein Problem, offen über Sexualität zu reden.

Was halten Sie selbst von Pornografie?

Mein Verhältnis zu Pornos ist ambivalent. Wenn alle Beteiligten – und das ist leider nicht immer gegeben – bei klarem Verstand sind und wissen, was sie tun, dann kann Pornografie ein normales Gewerbe sein. Aber natürlich gibt es in der Branche auch schlimme Verbrechen und Ausbeutung. Das ist abscheulich und muss hart bestraft werden. Die meisten Darsteller und Darstellerinnen, die ich getroffen habe, waren jedoch reflektiert und wussten, was sie taten. Darum ist mein Herz groß genug, um zu sagen: Wenn ihr das wirklich machen wollt, dann macht es. Aber seid euch immer bewusst, dass die Seele geschwärzt werden kann.

Gibt es guten Sex ohne Liebe?

Aber ja! Sex mit Liebe ist ein zelebriertes Festmahl. Sex ohne Liebe wie ein Abstecher in eine Imbissbude oder zu McDonald’s. Manchmal muss man eben schnell den Hunger stillen. Das ist überhaupt nicht zu verurteilen – vorausgesetzt, dass alle Beteiligten einverstanden sind und ihren Spaß haben.

Sie sind jetzt 70 geworden. Ist Sex da immer noch so wichtig?

Natürlich! Das Tolle beim Sex im Alter ist: Man kann so viel entspannter sein. All die Schönheitsideale und Vorgaben gelten nicht mehr. Es geht nur noch darum, gut miteinander zu sein, einen Komplizen oder eine Komplizin zu haben und sich mit einer gewissen Schamlosigkeit aneinander zu erfreuen.

In Ihrem gerade erschienenen Buch »Waren Sie nicht mal Lilo Wanders?« schreiben Sie, dass Sie an Ihrem 16. Geburtstag Ihrer Familie gesagt haben: »Ich bin schwul!« Wie hat die Familie reagiert?

»Aber das wissen wir doch längst«, sagte meine Mutter. Ich hatte offene Tore eingerannt. Ich habe zwar nicht rumgetuckt, aber ich war halt mädchenhaft. Auch in meiner Jugendclique wurde ich zuvor schon wie ein Zauberwesen behandelt und von allen beschützt. Denn die Ansage an meinem 16. Geburtstag war ja eigentlich schon mein zweites Coming-out[1]. Selbst zu akzeptieren, dass man schwul ist, ist das erste Coming-out. Es anderen mitzuteilen, ist das zweite Coming-out.

Wann haben Sie sich das erste Mal als Frau verkleidet?

Während des Kinderkarnevals, mit acht Jahren. Ich wurde zunächst ohne Nachfrage im Kreis der Mädchen aufgenommen. Erst als sie checkten, dass ich gar kein Mädchen war, war ich draußen. Mit elf oder zwölf Jahren habe ich mich das erste Mal heimlich geschminkt. Ich habe mir Rosenblütenblätter auf den Wangen verrieben und mir mit abgebrannten Streichhölzern die Augen umrandet. Plötzlich kam meine Oma ohne anzuklopfen in mein Zimmer. Ich habe meinen Kopf unter die Decke gesteckt, und sie dachte, ich spiele Indianer.

Was reizte Sie damals, was reizt Sie heute daran, sich als Frau zu verkleiden?

Ich war ein geducktes Kind. Viele harte Schicksalsschläge hatten mein Selbstwertgefühl angegriffen. Ich hatte wenig Kraft, aus mir heraus meine eigene Rolle zu finden. Darum bin ich schon früh in Rollen geschlüpft, habe zum Beispiel so getan, als ob ich mein eigener Zwilling sei, um unbefangener mit Menschen kommunizieren zu können. Das war die Keimzelle meiner Schauspielerei. Die Figur Lilo Wanders[2] wurde später mein Schutzschild vor dem Leben.

Ihr Vater war ein kleinwüchsiger, buckliger Mann, der unter den Folgen der Kinderlähmung litt. Er starb, als Sie vier Jahre alt waren. Ihr jüngerer Bruder Momme kam mit Contergan-Schäden[3] zur Welt und starb mit 17 Monaten. Sie waren damals sieben Jahre alt. Vom neuen Partner Ihrer Mutter wurden Sie geschlagen. Seit dem Tod Ihres Vaters war das Geld oft knapp. Nachdem der heterosexuelle jüngere Bruder eines Freundes ein erotisches Abenteuer mit Ihnen öffentlich als »Mitleidsfick« bezeichnete, unternahmen Sie im Alter von 18 Jahren einen Suizidversuch. Klingt nicht gerade nach einer unbeschwerten Kindheit und Jugend.

Bis ich Ende zwanzig war, dachte ich, dass ich ein wirklich schlimmes Schicksal habe, und das war es ja auch. Die vielen aufeinander folgenden Todesfälle waren traurig und belastend. Aber wenn ich meine Lebensgeschichte jetzt rückblickend mit denen anderer vergleiche, muss ich sagen: Ich bin relativ unbeschadet rausgekommen.

Als Lilo Wanders sind Sie erstmals 1988 im Schmidt Theater auf der Reeperbahn aufgetreten. Verkleiden Sie sich auch privat manchmal als Lilo Wanders?

Nein. Das Lilo-Outfit ist meine Arbeitskluft. Wenn ich mich in Lilo verwandele, sage ich: »Papa zieht den Blaumann an und geht auf Schicht.«

Kommen wir zur Politik. Bundestagspräsidentin Julia Klöckner hat es in diesem Jahr abgelehnt, anlässlich des Christopher-Street-Days die Regenbogenflagge am Reichstag zu hissen[4]. Bundeskanzler Friedrich Merz sprang ihr zur Seite und sagte, dass der Reichstag kein Zirkuszelt sei, auf dem man beliebig Fahnen hissen könne. Ändert sich in Deutschland gerade die Stimmung gegenüber queeren Menschen?

Ich möchte Frau Klöckner inhaltlich nicht auch noch zur Seite springen, aber formal gesehen hat sie recht. Ansonsten müssten ja auch zu allen anderen Feier- und Gedenktagen die entsprechenden Flaggen am Reichstag gehisst werden. Aber natürlich ist das Regenbogenflaggen-Verbot eine unfreundliche Geste und zeigt, wes Geistes Kind sie ist. Wer fühlt und denkt, sieht, wie sich die Lage in Deutschland für queere Menschen verschärft. Das beunruhigt mich.

Was beunruhigt Sie konkret?

Dass Menschen sich über andere Menschen erheben. Das steht niemandem an. Umso absurder finde ich es, dass rechte Politiker sich dermaßen mit der Sexualität ihrer Mitmenschen beschäftigen. Das lässt doch darauf schließen, dass da bei ihnen selbst irgendwas im Argen ist. Ich sage immer: »Unter jedem Dach ein Ach.«

Muss man heutzutage als queerer Mensch in Deutschland noch oder wieder Angst haben?

Ich will nicht in die Kerbe hauen und so die Angst verstärken, aber ich weiß, dass es in Deutschland queere Menschen gibt, die Angst haben. Ich empfehle ihnen, trotzdem mit Selbstbewusstsein und erhobenem Kopf durchs Leben zu gehen. Das beeindruckt und erhöht so die Sicherheit.

Macht Ihnen der Aufstieg der AfD Angst?

Mir macht Dummheit Angst, die Dummheit, dass Menschen einfach Dinge übernehmen, ohne sie zu hinterfragen, dass sie auf Schlagworte reinfallen, ohne die Lügen, die oft dahinterstecken, zu erkennen. Auch wenn manche der Hetzer jetzt Kreide fressen, müssen wir wachsam bleiben und aufpassen, dass diese Menschen niemals an die Macht kommen. Manche AfD-Wähler wollen der Politik vielleicht nur einen Denkzettel verpassen. Oft ist ihnen nicht klar, was sie damit anrichten könnten.

Ist Ernie Reinhardt Feminist?

Ja. Jeder Mann sollte Feminist sein, damit der etwas größeren Hälfte der Menschheit endlich Gerechtigkeit widerfährt.

Obwohl Sie schwul sind, haben Sie 1985 Ihre Frau Brigitte geheiratet. Mittlerweile sind Sie seit 40 Jahren zusammen, haben drei erwachsene Kinder und drei Enkelkinder. Wie führt man als schwuler oder bisexueller Mann so lange eine Ehe mit einer Frau?

Ich verschanze mich nicht hinter dem Schutzschild »bisexuell«. Ich bin ein schwuler Mann. Punkt. Früher war ich ein Mädchen im Jungenkörper, aber ich wollte körperlich nie eine Frau sein und mein Begehren zielte immer auf Männer.

Warum sind Sie seit 40 Jahren mit einer Frau zusammen?

Die Liebe macht alles möglich. Vielleicht war es eine karmische Begegnung, dass Brigitte und ich aufeinandergetroffen sind. Ansonsten gäbe es unsere tollen Kinder und Enkelkinder nicht.

Ihre Frau erlitt 2012 einen Schlaganfall, seit 2013 sind Sie auch mit einem Mann liiert. Mit wem leben Sie? Ihrer Frau? Ihrem Partner? Beiden? Alleine?

Ich habe immer mit meiner Frau zusammengelebt. Das mit meinem Partner ist eine »Sache zur linken Hand«. Die Beziehung ist sehr beglückend, auch wenn wir uns nicht oft sehen. Aber da wir so gut wie nie telefonieren, haben wir uns wahnsinnig viel zu erzählen, wenn wir zusammenkommen. Da staut sich immer in jeder Hinsicht vieles auf – und es wird immer schöner.

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Sie oft daran zweifeln, ob Sie zu tiefer Liebe fähig sind. Wieso denken Sie das?

Weil ich vor allem in meiner Kindheit und Jugend so vieles verpacken musste, habe ich eine Schutzschicht um mich herum geschaffen, um nicht völlig aus der Bahn geworfen zu werden, wenn etwas scheitert oder wieder jemand stirbt. Wenn mich etwas eigentlich wirklich erschüttern müsste, fahre ich deshalb zunächst wie auf Autopilot weiter. Ich erkenne dann erst zeitverzögert, dass ich etwas verdränge. Für mich ist das Ideal der Liebe, wenn Seelen sich berühren. Aber manchmal muss man einen Kokon um seine Liebe spinnen, um nicht am Leben oder einer enttäuschten Liebe zu zerbrechen.

Sind Sie glücklich?

Ach, das Glück. Oft macht man sich falsche Hoffnungen, dass Glück ein langanhaltender Zustand sein könne, aber es währt immer nur wenige Augenblicke. Ich kann zum Beispiel Glück empfinden, wenn ich nach einer Veranstaltung nach Hause komme, das Gartentor öffne und im endlosen Himmel über mir die Sterne blitzen sehe. Oder wenn ich einem kleinen Kind in die Augen schaue und so für eine kurze Zeit eine innige Verbindung zwischen uns entsteht.

Kann und sollte man sich mit 70 Jahren noch verändern?

Aber ja! Unbedingt! Wenn jemand sein Leben lang einen Sack mit Problemen mit sich rumgeschleppt hat, kann man auch mit 70 Jahren noch eine Therapie anfangen und seine Lebensumstände komplett ändern. Je älter man wird, desto mehr Erkenntnisse gewinnt man, und jede Erkenntnis bringt einen weiter. Ich rechne damit, dass ich noch mindestens 15 Jahre vor mir habe. Die will ich so offen und neugierig wie möglich gestalten.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1189100.queerpanorama-jun-li-bei-der-berlinale-eine-kaputte-gesellschaft.html
  2. https://de.wikipedia.org/wiki/Lilo_Wanders
  3. https://de.wikipedia.org/wiki/Contergan-Skandal
  4. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1192865.keine-regenbogenflagge-auf-dem-bundestag-csd-in-berlin-warum-kloeckners-argumentation-queerfeindlich-ist.html