Es war ein Anblick, der für ungläubige Blicke in Kigali[1] sorgte: Die Schweizer Frauenauswahl in Führung beim Mixed-Teamzeitfahren der Rad-WM[2]. Das Trio um die überlegene Einzelweltmeisterin[3] Marlen Reusser hatte vom Männertrio an dritter Stelle übernommen, den Rückstand von mehr als einer halben Minute auf Australien längst wettgemacht und schien auf sicherem Weg zu einem überlegenen Triumph[4]. Doch dann hielt Reusser plötzlich am Straßenrad an. Das Teamauto hielt ebenfalls. Hektisch wurde ein Ersatzrad vom Dachgepäckträger heruntergenommen und Reusser wechselte das Fahrgerät. Grund war ein Defekt.
»Oben über den Berg haben wir uns bei einem Wechsel ein wenig touchiert. Danach ging meine Schaltung nicht mehr«, erklärte sie. Und schalten musste man bei diesem Kurs mit mehreren Anstiegen[5] und Abfahrten gewiss. In der Zwischenzeit waren ihre Teamkolleginnen Noemi Rüegg und Jasmin Lichti weitergefahren. Beide waren allerdings verunsichert wegen der Situation. »Wir wussten nicht genau, was wir machen sollen. Über Funk haben wir gehört, dass wir einfach weiterfahren sollen und Marlen uns dann wieder einholt«, sagte Rüegg später »Radsport-News«. Bei den Männerkollegen, die im Zielbereich vor den Bildschirmen warteten, machte sich eine Gefühlsmischung aus Schreck, Erstaunen und auch Unverständnis breit.
»Du leidest erst einmal mit ihnen«, beschrieb Teamkollege Stefan Küng in der Pressekonferenz nach dem Rennen seine erste Reaktion. »Du willst sie am liebsten anschieben und wünschst dir eine direkte Leitung zum Teamauto, um zu sagen, dass die anderen beiden warten sollen«, sagte er auch. Wäre das die bessere Entscheidung gewesen? Auch Reusser selbst neigte später im Hotel dieser Ansicht zu: »Nachher ist man immer schlauer. Es wäre wahrscheinlich besser gewesen, wenn wir direkt alle gestoppt hätten. So war es ein Einzelzeitfahren gegen ein Paarzeitfahren bis zum letzten Anstieg.«
In dieser ungewöhnlichen Rennsituation war Reusser dann aber besser als das Paar vor ihr. Schon beim »echten« WM-Einzelzeitfahren hatte sie die Konkurrenz regelrecht dominiert. Genauso saugte sie sich auch jetzt wieder an ihre Teamkolleginnen ran. Diese brachten derweil in all der Verwirrung und der Hoffnung auf die Wiederkehr der Anführerin vielleicht nicht die vollen Kräfte in die Pedale.
Wie es auch immer innendrin aussah in den Protagonistinnen – Reusser schaffte recht schnell den Anschluss, übernahm die Führung und führte das Schweizer Team noch bis auf fünf Sekunden an Silber und zehn Sekunden an das Regenbogentrikot heran. »Ich bin mir sicher, ohne den Defekt hätte es zum Titel gereicht«, meinte Küng später. Wie viel Zeit sie verloren hatte durch den Zwischenfall, mochte Reusser nicht bestimmen: »Es liegt jetzt an den superschlauen Experten, das zu kalkulieren. Man muss die Zeit des Radwechsels selbst einberechnen. Man braucht Zeit, um zurückzukommen. Und dann verlierst du natürlich auch Energie, die du sonst gehabt hättest und die dich als Team schneller gemacht hätte. Ich kann das gerade nicht berechnen.«
Im Schatten des Dramas der Eidgenossinnen sicherte sich Australien mit soliden Leistungen auf beiden Teilstrecken den Titel. Die Männer um den zweimaligen Vuelta-Etappensieger Jay Vine hatten die schnellste Zeit hingelegt. Den Frauen um die 38-jährige Ex-Vizeweltmeisterin Amanda Spratt reichte die viertschnellste Zeit.
Das deutsche Team blieb mit Rang fünf im Rahmen seiner von Tag zu Tag bescheidener gewordenen Möglichkeiten. Aus Krankheitsgründen hatte erst der fest eingeplante Max Schachmann seine Staffelteilnahme absagen müssen. Am Tag des Rennens selbst kam auch noch der Verzicht von Liane Lippert, ebenfalls wegen gesundheitlicher Probleme. Für sie sprangen aus dem U23-Kader Louis Leidert und Justyna Czapla ein. Das verringerte die Möglichkeiten, auf jedem Teilstück des sehr anspruchsvollen Parcours aufs Tempo zu drücken. Jonas Rutsch etwa meinte: »Wir hatten es so geplant, wie wir es auch gemacht haben, dass ich den ersten längeren Berg komplett von vorne nehme und so an Louis’ Leistungslimit ranführe, aber dass wir in die Abfahrt auf jeden Fall noch mit drei Leuten reingehen, weil es mit drei Leuten in der Abfahrt einfach schneller ist. Das haben wir umgesetzt.«
Schachmanns Leistungslimit wäre an diesem Tag wahrscheinlich etwas höher angesiedelt gewesen. Aber wäre, hätte, wenn zählt auch nicht. »Ich denke niemand kann sich etwas vorwerfen. Wir haben alle unser Bestes gegeben, und mehr war heute nicht drin. Das war im Bereich des Möglichen«, meinte Miguel Heidemann, der dritte Mann im Bunde, schließlich. Auch Nationaltrainer Jens Zemke zeigte sich von der Leistung insgesamt angetan: »Sie haben es gut gemacht. Wenn man sieht, gegen welche Gegner sie heute fahren mussten, ist das ein solides Ergebnis.«
Mehr als solide fuhren die Frauen. Das Trio um die vor allem an den Anstiegen extrem starke Antonia Niedermaier wurde auf ihrem Teilabschnitt sogar Dritte. In der Endabrechnung ergab dies aufgrund des siebten Platzes der Männer auch ganz exakt das rechnerische Mittel von Gesamtrang fünf. Die einzige echte Medaillenchance des deutschen Teams war damit dahin. Bei den Straßenrennen am Wochenende sind andere Nationen favorisiert.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1194299.radsport-rad-wm-wie-kein-schweizer-uhrwerk.html