Am Samstagabend war vor allem Ratlosigkeit in die Gesichter der großen Favoritinnen gemalt. »Wir waren so dumm. Wir haben uns alle nur angeguckt und so das Rennen verloren«, schimpfte die Italienerin Elisa Longo Borghini und nahm sich selbst aus der Reihe der Dummen des Tages gar nicht aus. »Ich denke, wir haben die Kraft und die Motivation der Gruppe vor uns unterschätzt. Ich muss jetzt einfach nur schnell in mein Hotelzimmer und vor allem über mein eigenes Verhalten nachdenken, bevor ich hier noch mehr sage«, meinte die tief enttäuschte zweifache Giro-Siegerin. Mit der Hoffnung auf den WM-Titel[1] ins Rennen gegangen wurde sie nur 15.
Komplette Fassungslosigkeit strahlte die Schweizerin Marlen Reusser aus. »Das ist wirklich mega bitter«, kommentierte die Zeitfahrweltmeisterin[2] den Arbeitstag. »Ich denke, ich hätte die Beine gehabt. Elise und ich waren wirklich die Stärksten«, bezog sie sich auch auf ihre Teamkollegin Elise Chabbey. »Aber dann fährt einfach niemand«, klagte sie über die komplette Untätigkeit innerhalb der Favoritinnengruppe. Die hatte etwa 32 Kilometer vor dem Ziel eine siebenköpfige Gruppe von Außenseiterinnen ziehen lassen, unter ihnen auch Antonia Niedermaier vom deutschen Team.
In der Gruppe allerdings merkte Niedermaier früh, nicht die Stärkste zu sein. »Die letzten zwei Runden hatte ich ein bisschen Probleme mit meinem Bauch und hatte ziemliche Bauchkrämpfe«, sagte sie »nd«. Die Schmerzen waren so stark, dass sie nicht einmal richtig wusste, wie sie auf dem Rad sitzen sollte, schilderte sie ihre Pein. Stolz vermerkte die 22-Jährige aber auch: »Ich habe mich immer zurückgekämpft, und ich glaube, deswegen kann ich ganz zufrieden sein.« Platz sechs lag über ihren eigenen Erwartungen, allerdings unter denen des Teams.
Mit der nominellen Kapitänin Liane Lippert hatte man eigentlich eine Medaille angepeilt. Lippert aber stieg in der entscheidenden Phase des Rennens wegen Magenproblemen aus, wegen derer sie sich sogar übergeben musste. Früh signalisierte sie deshalb ihren Teamkolleginnen, auf eigene Rechnung zu fahren. Niedermaier mit Platz sechs und Franziska Koch als Zwölfte machten das dann auch ziemlich gut. Koch haderte am Ende noch ein wenig damit, dass sie nicht mit in die Ausreißergruppe gegangen war, sondern darauf gebaut hatte, dass die Favoritinnen die Lücke schon schließen würden.
Genau das taten sie aber nicht. Teilweise, weil sie nicht die Kraft hatten, wie Tour-de-France-Siegerin[3] und Top-Favoritin Pauline Ferrand-Prevot später zugab. Teilweise auch, weil sie ebenfalls mit Magenproblemen zu kämpfen hatten, wie etwa Demi Vollering, die auf dem Papier härteste Rivalin der Französin. Sie alle hatten aber auch nicht die Courage, ihren Teamkolleginnen mitzuteilen, dass auf sie heute eher nicht zu zählen ist.
Die einzige, die man von dieser Kollektivschelte ausnehmen sollte, ist Reusser. Sie nahm inmitten all der Tatenlosigkeit der anderen ihr Herz in beide Hände und schnellte aus dem Peloton heraus. »Ich dachte, wenn ich mich jetzt nicht bewege, dann wird es eh nichts«, erklärte die Schweizerin hinterher. Sie entschloss sich dann aber, nicht mehr selbst bis ganz nach vorn zu fahren, sondern als Startrampe für Teamkollegin[4] Chabbey zu fungieren. Doch Chabbey schaffte den Anschluss an das Trio ganz vorn nicht und wurde bitter enttäuscht Vierte. »Ein komisches Rennen«, meinte Reusser noch und schüttelte den Kopf.
Weltmeisterin hingegen wurde Magdeleine Vallieres aus Kanada. Sie hatte sich gezielt mit einem Höhentrainingslager auf die WM vorbereitet und schien auch mit den für andere einschränkenden Bedingungen wie Hitze, Höhe und Magen-Darm-Probleme sehr gut zu Recht zu kommen. »Ich wusste, dass ich in guter Form bin, und sagte mir, ich wollte nichts bereuen«, erklärte die 24-Jährige nach ihrem Triumph. Als Sahnehäubchen kommt für Vallieres hinzu, dass sie bei der WM im nächsten Jahr in ihrer Heimat Kanada als Titelverteidigerin an den Start gehen kann.
Als fast noch größere Überraschung durfte man den siebten Rang der Äthiopierin Tsige Kiros Kahsay beim Rennen der Juniorinnen ebenfalls Samstag werten. Die 18-Jährige kommt aus der Bergregion Tigray, die schon Weltklasseleichtathleten wie den Doppelolympiasieger Miruts Yifter herausbrachte. Auch der ehemalige Radprofi Tsgaby Grmay kommt aus der Region. Er brachte Kahsay zum World Cycling Center[5] des Weltverbands UCI, wo sie weiter an ihrem Talent feilen konnte. Trotz ihres historischen siebten Platzes, der ersten Top-10-Platzierung für Afrikas Sportlerinnen und Sportler bei einer Radsport-WM, versprühte die junge Äthiopierin nach dem Rennen nicht die ganz große Freude. »Eigentlich wollte ich Gold holen, dafür bin ich hergekommen«, meinte sie zu »nd«.
Das war nicht einfach so dahergesagt. Als Juniorin nahm sie bereits am eigentlich für U23-Athletinnen vorgesehenen Prestigerennen Tour de l’Avenir Femmes teil, wurde dort als kämpferischste Fahrerin der 3. Etappe prämiert. Auch beim WM-Rennen zeichnete sie sich durch die eine oder andere Attacke aus. Für 2026 strebt sie einen Vertrag bei einem Development-Team in Europa an. Ihr Fernziel ist die Tour de France. Und in zwölf Monaten soll es der WM-Titel in Montreal sein. Das kündigte Kahsay mit fester Stimme in Kigali an. Wie das auch als große Außenseiterin geht, hat Überraschungssiegerin Magdeleine Vallieres in diesem Jahr vorgemacht.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1194346.radsport-zwei-coups-bei-der-radsport-wm-in-kigali.html