Die Sonne scheint und vor dem Karl-Liebknecht-Haus wird ein Lkw mit Fahnen und Plakaten geschmückt. Anfang 20-Jährige mit Parteifahnen füllen die Straße vor der Parteizentrale der Linken in Berlin und warten auf die Demonstration[1]. Im Innenhof erhalten Ordner*innen ihre letzten Einweisungen, der Ton ist ernst. Die Stimmung ist dennoch gut, wenn auch manche schon müde sind. Viele sind aus dem ganzen Bundesgebiet angereist, so auch Amelie, die um vor fünf Uhr morgens in Düsseldorf in einen Zug nach Berlin gestiegen ist.
Zwischen dem Gewusel auch Parteiprominenz: Janis Ehling[2], Bundesgeschäftsführer der Partei, macht sein Fahrrad klar, er will sich den Treffpunkt ansehen. »Diese Demo ist ein dringend benötigtes Signal an die Bundesregierung, ihre Unterstützung für den Völkermord einzustelllen.« Es ist das erste Mal, dass der Bundesgeschäftsführer der Linken offen vom Genozid in Gaza spricht. Bis lang war es Parteilinie, den Begriff nicht selbst offiziell zu verwenden.
Der am 16. September veröffentlichte Bericht der Menschenrechtskommission[3] der Uno zu Palästina, der Israel offiziell einen Genozid vorwirft, hat wohl auch in der Linken ein Umdenken ausgelöst. Auch Mutasem und Qusay, beide Anfang 20 und Palästinenser, sind dem Aufruf der Linken gefolgt. Sie sind keine Parteimitglieder und dennoch aus Rostock zum Karl-Liebknecht-Haus gereist: »Wir wollen die Menschen in Gaza unterstützten und dazu beitragen, die Waffenlieferungen an Israel zu stoppen.« Motiviert hat sie ein Post der Partei auf Instagram: »Ich war richtig überrascht! Ich dachte mir, das will ich unterstützen.«
Der Zustrom zur Demonstration, die am frühen Nachmittag am Neptunbrunnen beginnen soll, ist gewaltig: Der Platz von Karl-Liebknecht-Straße bis zum Roten Rathaus ist dicht gefüllt. Für die Anzahl an Demonstrant*innen gibt es erstaunlich schwache »Lautis«. Laut ist es dennoch allemal. Eine Rentnerin beschwert sich bei ihrem Partner über das wilde Getrommel und »Chaos«, während Kinder neben ihren Eltern in der Sonne spielen und Mittzwanziger Kippen drehen.
Die Stimmung ist gelassen, anders als bei den bisherigen palästinasolidarischen Demonstrationen, die hauptsächlich von der migrantischen Community Berlins getragen wurden und die häufig von Polizeigewalt geprägt waren. Die Menge ist bunt: Neben Flaggen antiimperialistischer Kleinstparteien wie Mera 25 finden sich die von Gewerkschaften, »Studis gegen Rechts«, klassische Friedenstauben – und immer wieder die Piratenflagge »Jolly Roger« aus dem Anime »One Piece«, die derzeit weltweit auf Demonstrationen, von Nepal über Indonesien bis nach Italien und Spanien, zu sehen ist.
Ein kleiner Junge schwenkt die Fahne im Wind vor der Marienkirche. Mitgebracht hatte sie Japrak, 34, der erklärt, dass der »Jolly Roger« für die Befreiung von Unterdrückten stehe. Japrak wird im »antikolonialen Block« mitlaufen. Insgesamt ist die Demo in sechs Blöcke gegliedert. Neben dem antikolonialen sind das jene mit den Namen »Internationale Solidarität«, Familienblock, Die Linke, Beats A.G. und der Jugendblock. Nach dem Start des Demonstrationszuges vermischen sie sich schnell zu einem Zug.
Doch zuvor gibt es erste Redebeiträge. Die Linke-Vorsitzende Ines Schwerdtner und die Linke-Europaabgeordnete Özlem Alev Demirel treten gemeinsam auf. Schwerdtner sagt: »Freundinnen und Freunde, ich verstehe euren Schmerz, denn das, was in Gaza geschieht, ist ein Völkermord!« Die Seite der Linken sei klar – aus der Menge ruft jemand: »Zwei Jahre zu spät.« Als Sprechchöre »Entschuldigung!« anstimmen, reagiert Schwerdtner: »Wir stehen hier für die gesamte Partei, wenn wir sagen: Wir haben zu lange geschwiegen. Ich habe zu lange geschwiegen. Es ist ein Genozid! Wir müssen die Waffenlieferungen stoppen.« Die weiteren Worte gingen im Applaus und Jubel der Masse unter – das Eis scheint gebrochen.
»Wir stehen hier für die gesamte Partei, wenn wir sagen: Wir haben zu lange geschwiegen. Ich habe zu lange geschwiegen. Es ist ein Genozid! Wir müssen die Waffen stoppen.«
Ines Schwerdtner Linke-Ko-Vorsitzende
Auch Michael Barenboim spricht während der Auftaktkundgebung. Der Konzertviolinist und Leiter des West-Eastern Divan Orchestra, in dem seit Jahrzehnten jüdisch-israelische und arabische Musiker gemeinsam spielen – und miteinander reden – hat sich seit Beginn des israelischen Krieges in Gaza dezidiert für ein Ende des Mordens ausgesprochen. Und ein Ende der deutschen »Staatsräson« gefordert, die dazu führt, dass bis vor kurzem noch Waffen an Israel geliefert wurden.
Barenboim ist einer der Initiatoren der Großdemo »Zusammen für Gaza«. Aufgerufen haben dazu neben der Linken die Menschenrechtsorganisationen Amnesty International und Medico International, aktiv beteiligt ist auch die israelisch-palästinensische Friedensgruppe Standing Together. Nach den Reden setzt sich der Zug in Bewegung und von den Lautsprecherwägen dröhnen Reden und Musik.
Auf dem langen Weg zum »Großen Stern« passiert die Demo drei Gegenkundgebungen. Bei einer wird neben Israel-Fahnen auch eine der Israelischen Streitkräfte IDF geschwenkt. Zur ersten Gegenkundgebung vor dem Berliner Dom hatte auch die VVN-BdA und die Progressive Linke aufgerufen. Letztere ist ein Netzwerk von Mitgliedern, ehemaligen Mitgliedern der Linken und anderen Personen. Ein Teilnehmer, der anonym bleiben möchte, begründet seine Anwesenheit so: »Weil ich das andere für eine antisemitische Shitshow halte. Der Krieg ist gerechtfertigt, solange die Hamas noch existiert und Geiseln nicht befreit sind.«
Er sei aus der Linken ausgetreten und protestiere nun gegen die ehemaligen Genoss*innen. Auch Ruth, 50, ist aus der Partei ausgetreten: »Es ist traurig, dass so wenige auf dieser Seite stehen.« Den 100 000 Demoteilnehmer*innen stehen etwa 30 Gegendemonstrant*innen gegenüber. Ruth ist dem Aufruf der Progressiven Linken gefolgt. Als die meisten wieder gehen, weil Teilnehmende entgegen der Bitte im Aufruf Israel-Fahnen zeigen, ist sie geblieben. Mehrfach erklären Anwesende, der Vorwurf der Genozids oder die UN seien antisemitisch: »Kriege sind halt grausam.«
Die große Demo begleitet der Linke-Bundestagsabgeordnete Marcel Bauer neben dem Schlusswagen als parlamentarischer Beobachter. Sein Eindruck: »Die Demo ist sehr friedlich, all die Vorwürfe des Antisemitismus sind falsch. Es geht hier niemandem um Hass.« Auch die Polizei halte sich zurück – anders als bei einer radikalen palästinasolidarischen Kundgebung am Moritzplatz, wo es zuletzt zu Auseinandersetzungen gekommen war.
Mittlerweile hat die Demonstration die Kundgebung »All Eyes on Gaza« an der Siegessäule erreicht. Der angrenzende Park und die gesamte Straße bis zum Brandenburger Tor sind gefüllt. Auf der Bühne wechseln sich bekannte Künstler*innen wie K.I.Z, Ski Aggu und Ebow mit Aktivist*innen von Amnesty International, Medico International und mesarvot ab. Auch die Demo-Initiator*innen Iman Abu Qomsan und Jules El-Kathib sprechen.
Die Reden sind teils emotional, teils analytisch tiefgründig. Bei Einbruch der Dunkelheit haben viele den Platz verlassen, aber einige Zehntausend bleiben. »Schade, dass viele schon um 20 Uhr gegangen sind«, sagt die Linke-Bundestagsabgeordnete Lizzy Schubert. »Aber das zeigt auch, dass es den Menschen ums Thema geht und nicht primär um die Konzerte.« Mit Blick auf die Gegendemonstration der Progressiven Linken erklärt sie: »Das ist bedauerlich. Unsere Partei ist nicht so gespalten, wie es von außen gerne mal dargestellt wird.« Einzelne Linke-Mitglieder in hohen Positionen verträten eine israelsolidarische Linie, doch sie spiegeln nicht die Haltung der Mehrheit wider. »Aktionen wie die der Progressiven Linken heute schaden sowohl der Bewegung als auch unserer Partei.« Generell sei die Demonstration extrem ermutigend und friedlich gewesen. Auch verschiedene Ordner*innen berichten, dass keine islamistischen Flaggen oder antisemitische Sprüche aufgefallen seien.
Auf dem Rückweg von der Kundgebung werden die NGO-Stände am Straßenrand besser sichtbar. Tsafrir Cohen, Geschäftsführer von Medico International, einem der Mitveranstalter, zieht Bilanz: Die Bedeutung der Veranstaltung liege darin, dass in Deutschland endlich eine Brücke geschlagen wurde – zwischen migrantischem und aktivistischem Milieu auf der einen und sensibilisierten Teilen der Gesellschaft auf der anderen Seite.
Es sei wichtig, den Genozid klar zu benennen, so Cohen. Medico sei auch vor Ort über Partnerorganisationen in Palästina und Israel aktiv. Aber: »Um den Genozid zu stoppen, müssen die politischen Rahmenbedingungen verändert werden! Wir dürfen keine Komplizen sein!«
Nach Angaben der Veranstalter sind an diesem Samstag zur Demo »Zusammen für Gaza« und der Abschlusskundgebung insgesamt 100 000 Menschen gekommen, die Polizei sprach immerhin von 60 000. In Düsseldorf, wo ebenfalls eine Demonstration für ein Ende des Krieges in Gaza stattfand, kamen nach Veranstalterangaben 15 000 Menschen zusammen.