Als Flieger im Ersten Weltkrieg abgeschossen und verwundet in britische Kriegsgefangenschaft geraten, beendete Otto Calliebe in der Weimarer Republik sein Studium und wurde Lehrer an einem Gymnasium in Stettin. Ende 1933 übernahm er eine leitende Funktion in der Nationalpolitischen Erziehungsanstalt (Napola) in Köslin, wechselte 1934 auf einen Posten in der Napola in Potsdam. Schülern ist er als pingelig und jähzorning in Erinnerung geblieben. 1940 wurde Calliebe Vizeinspekteur dieser Eliteschulen, die vor allem Offiziere für Wehrmacht und Waffen-SS heranzogen.
Am 22. April 1945 floh Calliebe vor den sowjetischen Truppen aus Potsdam und kam ein zweites Mal in britische Kriegsgefangenschaft. 1948 wurde er im Westen wegen seiner Vergangenheit als SS-Oberführer zur Zahlung von 15 000 Reichsmark verurteilt. Er musste sie aber nicht aufbringen. Diese Strafe galt durch seine vorherige Internierungshaft als bereits verbüßt.
1950 fand Calliebe eine Stelle in einer Schule im niedersächsischen Soltau und wurde später verbeamtet. Robert Ochsenfeld, der ab 1934 an der Potsdamer Napola unterrichtet hatte, wurde 1961 zum Direktor der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt ernannt. Das sind nur zwei Beispiele, wie Nazi-Lehrer in der Bundesrepublik wieder vor Schüler treten durften oder auch Karriere machen konnten.
Nachzulesen ist das alles in dem Buch »Napola Potsdam«, herausgegeben von der brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung[1] zu einer Ausstellung, die noch bis zum 8. Oktober in der Landeszentrale zu besichtigen ist. Um die 40 Napolas hat es in der Nazizeit gegeben, davon nur vier für Mädchen, alle anderen – auch die in Potsdam – ausschließlich für Jungs. Als Viertklässler mussten die Jungen sich einer harten Aufnahmeprüfung unterziehen. Dazu gehörten Mutproben wie die, als Nichtschwimmer ohne Zögern von einem Drei-Meter-Brett ins tiefe Wasser zu springen. Wer den rassistischen Kriterien der Faschisten nicht entsprach, kam als Zögling erst gar nicht in Betracht.
Die Napola Potsdam gehörte zu den ersten drei überhaupt, die im April 1933 eröffnet wurden. Seit 1822 hatte es an deren Standort an der heutigen Heinrich-Mann-Allee eine preußische Kadettenanstalt gegeben. Sie wurde in der Weimarer Republik in eine Staatliche Bildungsanstalt umgewandelt. Dort wurde aber im Unterricht unverdrossen die rechte Dolchstoßlegende gelehrt: Deutschland sei im Felde unbesiegt gewesen, habe den Ersten Weltkrieg nur durch innere revolutionäre Feinde verloren.
In dem Buch zur Ausstellung enthalten ist ein persönlich gehaltenes Kapitel von Thomas Wernicke, der ab 1979 am Potsdam-Museum arbeitete und dann 22 Jahre lang am Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte, bis er 2022 in den Ruhestand trat. Wernickes Mutter Gerda hatte von 1938 bis 1945 in der Verwaltung der Potsdamer Napola gearbeitet. In der DDR schrieb sie in ihren Lebensläufen aber immer von der »Staatlichen Bildungsanstalt«. Auch dass sie ab 1940 der NSDAP angehörte, verschwieg Wernickes Mutter wohlweislich. Im Chaos nach dem verheerenden Bombenangriff vom 14. April 1945, bei dem auch die Napola getroffen wurde, stahl Gerda Wernicke ihre eigene Personalakte. »Daraus aufgehoben hat meine Mutter alle Gehaltsbescheinigungen für die späteren Rentenansprüche«, schreibt Thomas Wernicke. »Den Rest wird sie verbrannt haben in der Gewissheit, Spuren ihrer Verwaltungstätigkeit bei der Napola verwischt zu haben.« Im Jahr 2000 ist sie verstorben.
Schüler in Uniform wie der 14-jährige Christian Gellinek mussten im Frühjahr 1945 KZ-Häftlinge bewachen, die durch Potsdam getrieben wurden. Ende April, als Vizeinspekteur Calliebe selbst die Flucht ergriff, wurden 40 Jungs bewaffnet nach Berlin geschickt, zum sinnlosen Endkampf um Berlin. Etwa die Hälfte wurde verwundet oder blieb verschollen. Gellinik überlebte, studierte Germanistik in Göttingen, wanderte in die USA aus und lehrte dort als Professor an der Yale-Universität. Seine Zeit an einer Napola erwähnte er erst nach seiner Pensionierung. Er starb 2022.
In der DDR zog der Rat des Bezirks Potsdam auf das Gelände der Napola. Heute befinden sich dort in historischen Gebäuden die brandenburgische Staatskanzlei[2] sowie das Justiz- und das Wirtschaftsministerium. In neu errichteten Häusern sind das Bildungs- und das Finanzministerium untergekommen. In der Villa, in der einst die Offiziere der Kadettenanstalt speisten, wohnte in der Nazizeit der Direktor der Napola. Heute ist in dieser früheren Dienstvilla die Landeszentrale für politische Bildung[3] zu finden.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1194382.faschismus-napola-in-potsdam-schueler-in-uniform.html