Bei den meisten Menschen löst das Wort »Bürokratie« Frustration aus – doch Menschen mit Behinderung kann der Kontakt mit den Behörden noch viel mehr kosten als nur Nerven. »Gravierenden Handlungsbedarf« sieht die Landesbehindertenbeauftragte Christine Braunert-Rümenapf in zahlreichen Feldern laut ihrem Tätigkeitsbericht für die Jahre 2023 und 2024, der nun veröffentlicht wurde. Grundlage des Berichts sind hunderte Anfragen von Betroffenen, die an die Landesbeauftragte gesandt wurden.
Ein besonderer Augenmerk des Berichts liegt auf der Situation von Menschen, die an ME/CRF erkrankt sind. Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS) ist eine Multisystemerkrankung und äußert sich in verschiedenen Symptomen wie Erschöpfung mit schweren Schmerzen, Geräusch- und Lichtempfindlichkeit. Zumeist tritt sie als Folge einer schweren Infektionskrankheit auf, umgangssprachlich wird sie daher mit Long Covid in Verbindung gebracht. Die Charité schätzt, dass mindestens 200 000 Betroffene in Berlin leben.
»An die Landesbeauftragte wurden in mehreren Fällen Probleme bei der Anerkennung einer Schwerbehinderung durch das Lageso trotz erheblicher Funktionsbeeinträchtigungen im Alltag herangetragen«, heißt es im Bericht. Die Versorgung für die Betroffenen sei »gravierend«, schreibt die Landesbeauftragte. Sie sieht den Senat in der Pflicht, »sich der Situation anzunehmen und nicht nur die Beratungs-, sondern auch die Versorgungsinfrastruktur zu stärken«, heißt es weiter.
»Das Problem ist, dass wir alle völlig gesund aussehen. Und das ist ein Riesenproblem bei der Begutachtung und Anerkennung«, erzählt Steffi Neldner. Neldner ist selbst an ME/CFS erkrankt und engagiert sich ehrenamtlich bei Fatigatio e. V. Der Verein setzt sich für die Rechte von ME/CFS-Erkrankten ein. Man könne seinem Körper nicht mehr vertrauen, berichtet ein Betroffener in einem Erfahrungsbericht auf der Webseite von Fatigatio. Belaste man ihn, büße man dafür und müsse tagelang liegen. »Es ist, als würde der Körper aufgeben«, so der Berichtschreiber.
Neldner kritisierte die mangelnde Erfahrung von Pflegegutachtern im Umgang mit ME/CFS. Diese habe zur Folge, dass Betroffene niedrigere Pflegegrade erhalten, als ihnen zustünden. »Man wird gefragt, ›Kannst du dir an den Kopf greifen?‹, und wenn man es einmal kann, dann wird angenommen, dass man sich die Haare waschen, kämmen und föhnen kann«, berichtet Neldner. »Bei uns ist die Herausforderung die Belastungstoleranz. Daher müssen wir die Frage stellen: ›Schadet es dir, wenn du es tust?‹«
»Das Problem ist, dass wir alle völlig gesund aussehen.«
Steffi Neldner Fatigatio e. V.
Im September erhielt die Vorstandsvorsitzende von Fatigatio, Liesltraud Riechmann, eine Einladung in den Landesbeirat für Menschen mit Behinderungen. »Da verspreche ich mir über unsere Beteiligung ganz viel Verbesserung für Betroffene«, sagt sie. Insbesondere im Studium und in der Ausbildung sehe sie Luft nach oben. »Es muss mehr getan werden. Die Umsetzung der Aufnahme von ME/CFS in das Curriculum im Medizinstudium und die ärztliche Versorgung nach der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses sind vorbereitet, aber in der praktischen Versorgung gibt es noch keine strukturierte Umsetzungsplanung.«
»Die größte Schwierigkeit ist der Kontakt mit den Sozialämtern. Häufig müssen die Anträge vor Gericht, bis etwas gemacht wird«, berichtet auch Theresa Mair, Beraterin beim Verein Interaktiv. »Währenddessen können die Betroffenen kein Pflegegeld erhalten und werden von Angehörigen gepflegt.« Den Grund sieht sie in der massiven Unterbesetzung verschiedener Ämter. »Die Einschätzung der medizinischen Gutachten entspricht oft nicht der der betroffenen Menschen«, erklärt Mair. Um einen Behindertenausweis zu erhalten oder ihren Pflegegrad zu beweisen, sähen sich Menschen gezwungen, privat für Atteste aufzukommen. Die Preisspanne, so Mair, liege zwischen 50 und 500 Euro.
Auch aus ihrer eigenen Arbeit kennt die Landesbehindertenbeauftragte Hürden im Kontakt mit staatlichen Stellen. So sei die ehrenamtliche Arbeit des Landesbeirats durch »die unzureichende Barrierefreiheit behindert« worden, heißt es in dem Tätigkeitsbericht. Die Landesbeauftragte kritisierte im Bericht, dass »immer wieder um die Bereitstellung von barrierefreien Dokumenten gebeten werden muss, obwohl dafür die rechtlichen Grundlagen in der Verwaltung bekannt sein müssten«. Obwohl landesweit vorgeschrieben ist, dass die Senatsverwaltungen Arbeitsgruppen zu »Menschen mit Behinderung« einrichten müssen, sagte die Senatsverwaltung für gesellschaftlichen Zusammenhalt alle Termine im Jahr 2023 ab, während die Senatskanzlei seit Frühling 2024 keine Termine mehr ansetzte und die Senatsverwaltung für Gesundheit im Jahr 2024 überhaupt erst eine Arbeitsgruppe einrichtete. Zudem seien 2023/24 weniger als die Hälfte aller bezirklichen Koordinierungsstellen für Menschen mit Behinderungen besetzt gewesen.
Die Landesbeauftragte weist im Bericht auf die mangelnden Interventionsmöglichkeiten der Stelle hin. Ein Weisungsrecht gegenüber anderen öffentlichen Stellen und Behörden fehle. »Die längerfristige politische Bearbeitung der Anliegen stellt Personen, die sich häufig in einer sehr schwierigen Lage befinden, nicht zufrieden, eine Sichtweise, welche die Landesbeauftragte teilt«, heißt es in dem Bericht.