nd-aktuell.de / 01.10.2025 / Politik

Nach Assad-Sturz: Wahlen ohne Demokratisierung

Ein Jahr nach dem Sturz von Diktator Assad wird in Syrien gewählt – Anita Starosta (Medico International) über die Lage im Land

Interview: Raul Zelik
40 Prozent der syrischen Schulen sind auch ein Jahr nach Kriegsende noch beschädigt.
40 Prozent der syrischen Schulen sind auch ein Jahr nach Kriegsende noch beschädigt.

Nachdem das Assad-Regime vor knapp einem Jahr von den islamistischen HTS-Milizen[1] gestürzt wurde, wird dieses Wochenende erstmals in Syrien gewählt. Wie viel Demokratisierung ist davon zu erwarten?

Wenig. Schon die Vorbereitung der Wahlen war problematisch, der Termin musste zweimal verschoben werden. In den drusischen Gebieten um die Stadt Suweida im Süden und den kurdisch geprägten Selbstverwaltungsgebieten im Norden und Osten [2]wird gar nicht gewählt. Und auch im Rest des Landes sind keine direkten Wahlen angesetzt: 30 Prozent der Abgeordneten werden von der Übergangsregierung von Präsident al-Scharaa, weitere 70 Prozent über ein indirektes Wahlsystem in den Regionen bestimmt. Alle Menschen, mit denen wir geredet haben, sprechen deshalb von Scheinwahlen, die in erster Linie dazu dienen, die Macht des Präsidenten zu sichern.

Sie waren gerade in den Selbstverwaltungsgebieten im Norden und Osten unterwegs. Wie stellt sich der Übergangsprozess dort dar?

Unsere kurdischen Partner*innen sind sehr besorgt. Die Gewaltausbrüche gegen Drus*innen in Suweida im Frühjahr und die Angriffe auf Kurd*innen in Aleppo in den vergangenen Wochen sind kein gutes Zeichen. In der Gegend um die nordsyrische Stadt Raqqa, also im arabischen Teil der Selbstverwaltungsgebiete, ist die Einschätzung etwas anders. Dort befürchtet die Bevölkerung vor allem eine Zersplitterung Syriens. Aber auch hier waren unsere Gesprächspartner*innen dem Übergangspräsidenten al-Scharaa gegenüber ausgesprochen kritisch eingestellt.

Was für Einwände werden gegen die Regierung in Damaskus vorgebracht?

Zunächst einmal herrscht die Wahrnehmung vor, dass sich in Syrien eine Art Machtvakuum herausbildet und es keine ernsthaften Versuche gibt, gemeinsame Strukturen zu schaffen. Zweitens gibt es keine glaubwürdigen Ansätze einer transitional justice, also einer Aufarbeitung der von der Assad-Diktatur und anderen Akteur*innen verübten Verbrechen. Und drittens schließlich ist die ökonomische Lage in Syrien nach wie vor extrem schlecht.

Das selbstverwaltete Rojava besaß für Linke große Anziehungskraft: ein feministisches, plurinationales und basisdemokratisches Projekt. Die Türkei allerdings hat die Region mit Drohnenangriffen in den letzten Jahren so zermürbt, dass viele Menschen die Gebiete verlassen haben.

Ja, die Folgen sind nicht zu übersehen. In der Gegend um die Stadt Qamischli ist die Infrastruktur wegen der türkischen Bombenangriffe nach wie vor zu 80 Prozent zerstört. Es gibt nicht immer Wasser, selten Elektrizität und zu wenig Diesel und Gas. In Raqqa und Kobane, die ebenfalls im Selbstverwaltungsgebiet liegen, wurden Wasser- und Stromversorgung hingegen nicht zerstört. Man merkt sofort den Unterschied: Es gibt Licht, und die Felder sind grün, weil sie bewässert werden können. In dem Zusammenhang muss man wissen, dass die Region gerade einen extrem trockenen Sommer hinter sich hat. Selbst im September waren es noch 40 Grad. Die Weizenernte ist dort, wo man wegen Treibstoffmangels keine Wasserpumpen betreiben konnte, praktisch ausgefallen.

Nach der Ankündigung der PKK, die Waffen niederzulegen, gab es große Hoffnungen auf einen Friedensprozess in der Türkei[3]. Zuletzt war davon allerdings nicht mehr viel zu hören. Ist der Prozess bereits gescheitert?

Nein, ich würde behaupten, dass er in vollem Gange ist. Es gibt eine Kommission mit Vertreter*innen der meisten im türkischen Parlament vertretenen Parteien – sowohl der Regierungsseite als auch der Opposition. Diese Kommission hört Vertreter*innen der Zivilgesellschaft an und diskutiert Lösungsansätze. In Deutschland mag man wenig davon mitbekommen, aber in der Südosttürkei und im Irak gibt es ständig Treffen kurdischer Strukturen. In Syrien wiederum steht der türkische Friedensprozess nicht im Mittelpunkt. Doch man merkt, dass sich wieder vermehrt kurdische Kader in den Selbstverwaltungsgebieten aufhalten und mehr Bilder des inhaftierten PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan zu sehen sind.

Empfindet die Türkei das nicht als Provokation?

Im Augenblick gibt es offenbar auch Gespräche zwischen der Türkei und den Selbstverwaltungsgebieten über eine Öffnung der Grenzen und eine Rückkehr der Vertriebenen in die türkisch besetzten Gebiete Rojavas. Außerdem hat es seit fast zwei Monaten keine türkischen Drohnenangriffe in Nordsyrien mehr gegeben. Nach drei Jahren können die Menschen endlich wieder durchatmen.

Kann man das bereits als türkisches Zugeständnis betrachten?

Ich denke, es hat eher mit dem Druck der USA zu tun. Washington versucht, die Türkei über den syrischen Übergangspräsidenten al-Scharaa zu Gesprächen mit den Kurd*innen zu bewegen. Vor allem nach dem Gewaltausbruch in den drusischen Gebieten möchte die US-Regierung dafür sorgen, dass auch die Kurd*innen als politische Akteur*innen eine Rolle bekommen.

Ach ja? Dann wäre die Trump-Regierung ja gar nicht so erratisch wie immer angenommen.

Der neue US-Sondergesandte für Syrien, Tom Barrack, ist ein enger Verbündeter Trumps. Er setzt sich für die Eingliederung der SDF (Syrian Democratic Forces, die militärischen Einheiten der Selbstverwaltungsgebiete, Anm. d. R.) in die syrische Übergangsregierung ein. Das US-Militär unterhält schon seit vielen Jahren enge Verbindungen in die syrisch-kurdischen Gebiete. Die Selbstverwaltung wird von den USA als Verbündeter im Kampf gegen den Islamischen Staat betrachtet. Obwohl Trump angekündigt hat, die Zahl der Soldaten zu reduzieren, hält er bisher an dieser Zusammenarbeit fest.

Gleichzeitig forcieren Teile der US-Regierung und Israel doch aber eine Fragmentierung Syriens. Und auch prowestliche kurdische Organisationen im Irak scheinen damit zu sympathisieren.

Die Führungspersonen der Selbstverwaltungsgebiete in Syrien haben ganz sicher kein Interesse an einer strategischen Allianz mit Israel. Denn sie wissen, dass sie darin nur ein Spielball bei der geopolitischen Neuordnung der Region wären. Was die prowestlichen irakischen Kurd*innen angeht, so hat der Präsident der Autonomie-Regierung, Nechirvan Barzani, eine bemerkenswerte Solidaritätserklärung mit den syrischen Kurd*innen abgegeben. Sollte es zu Angriffen auf die Selbstverwaltung kommen, so Barzani, werde man mit Kämpfer*innen zu Hilfe eilen. Das war ein echtes Novum, weil Barzani als türkeinah gilt.

Sie waren jetzt auch in der Region, um sich über die Arbeit Ihrer Projektpartner zu informieren. Im Rahmen der Kampagne »Solardarity« sammelt Medico Geld zur Finanzierung von Solaranlagen. Wie ist hier der Stand?

»Solardarity« finanziert Kleinprojekte, die lokal einen großen Unterschied machen. In mehreren Dörfern bei Qamischli haben wir mit Dorfbewohner*innen gesprochen, die von den Solarpaneelen direkt profitieren. Die Anlagen treiben Brunnen an, und die Menschen sind extrem dankbar dafür, dass sie jetzt wieder sieben Stunden am Tag Wasser haben. Auch in Schulen gibt es dank der Solarpaneele wieder Wasser und Elektrizität, Flüchtlinge haben kleine Module bekommen, um Handys aufzuladen. Das sind sicher nur Tropfen auf den heißen Stein. Aber die Kampagne hilft konkret, und das ist viel wert.

In Europa wird darüber debattiert, ob man sich auf den »Klimakollaps« vorbereiten sollte. In Rojava sind Klimakrise und Krieg bereits Alltag. Was lässt sich dort lernen?

Mir war neu, dass der Irak offenbar damit begonnen hat, Regenwolken »zu stehlen«, sie also über Syrien zu zerstreuen und über eigenem Gebiet zum Abregnen zu bringen. In der Türkei passiert das anscheinend auch. Die Methoden, um an die letzten Wasserreserven zu kommen, werden also kreativer. Leider gibt es hier keine Gegenstrategie – von Kleinstprojekten einmal abgesehen. Die Verbindung von Klimakrise und kriegerischen Konflikten führt zu einem verschärften Raub natürlicher Ressourcen. Das ist wohl das Szenario, auf das wir uns vorbereiten müssen.

Und wie sehen die politischen Perspektiven für Syrien aus?

Al-Scharaa hat auf der UN-Vollversammlung gesprochen und ist ein anerkannter Partner der internationalen Gemeinschaft. Der im März ausgehandelte Zehn-Punkte-Plan zwischen der islamistischen HTS und den prokurdischen SDF wurde noch nicht umgesetzt. Eine Integration der Selbstverwaltung in die Übergangsregierung ist nicht absehbar. Entscheidend wird deshalb sein, dass sich die syrische Bevölkerung nicht spalten lässt und gemeinsam für Gerechtigkeit, Aufarbeitung und eine lebendige, demokratische Zivilbevölkerung eintritt.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1187417.warum-stuerzte-assad-so-schnell-haid-haid-syrer-koennen-wieder-von-einem-freien-land-traeumen.html
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1184027.selbstverwaltung-in-nordostsyrien-perspektive-rojava.html
  3. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1192599.pkk-neues-kapitel-fuer-die-tuerkei.html