Wie Märchen (nicht) enden

Schüler befreiten eine Prinzessin – mit erschreckender Gewalt

  • Walter Schmidt
  • Lesedauer: 4 Min.
In einem aufschlussreichen Experiment mit 280 Schülerinnen und Schülern konnten Bonner Erziehungswissenschaftler zeigen, wie sehr die Medien bereits die Fantasiewelt von 12- und 13-Jährigen besetzen.
Aschenputtel am Märchenbrunnen in Berlin-Friedrichshain
Aschenputtel am Märchenbrunnen in Berlin-Friedrichshain

Wie man eine holde Prinzessin aus den schwieligen Händen einer alten Hexe befreit, gehört nicht zu den Problemen, mit denen sich die Schüler von heute herumschlagen müssen. Außer freilich, sie nehmen an einem Test teil, der sie dazu anstiftet, sich eine Lösung zu überlegen.

Bonner Erziehungswissenschaftler wollten nämlich herausfinden, wie Heranwachsende ein traditionelles Märchen beenden würden, wenn man ihnen nur den Anfang präsentiert. Sie wählten dazu die Geschichte von der »Königstochter im Zauberschloss«, in dem eine Prinzessin von einer Hexe gefangen genommen wird, und ließen 125 Schülerinnen und 155 Schüler der Klassenstufen 7 und 8 freie Hand dabei, das Märchen zu Ende zu bringen. Die 280 Schüler besuchten reine Mädchen- bzw. Jungenschulen, und zwar sowohl Gymnasien als auch Realschulen.

Dass der Test an nach Geschlechtern getrennten Schulen stattfand, hatte seinen Grund: »Wir hatten bereits Ergebnisse in gemischten Klassen und wollten wissen, ob die Befunde in homogenen Klassen ähnlich waren«, sagt Professor Volker Ladenthin. Allerdings habe sich hier keine Tendenz herausgestellt. »Die Befunde ließen sich eher dem Geschlecht als der Art der Zusammensetzung der Klassen zuordnen.«

Ladenthin und seine Versuchsleiterinnen Jessica von Wülfing und Claudia Kamps ging es darum festzustellen, welche Bilder in den Köpfen von Heranwachsenden umherschwirren. Um es kurz zu machen: Es waren zum Teil sehr gewaltsame.

Vor allem die Jungen erfanden oft extrem gewalttätige Märchenschlüsse, die viel darüber verrieten, was sie aus entsprechenden Filmen und Computerspielen in ihre Fantasiewelt übernommen hatten. Die Mädchen hingegen ließen ihre Märchen zwar in aller Regel gewaltfrei enden, entlehnten dabei aber gerne Bilder und Lösungen, die ihnen höchstwahrscheinlich aus romantischen TV-Seifenopern bekannt sind. »Unsere Studie zeigt in der Tat, wie sehr Medienbilder inzwischen die Fantasie von Kindern besetzen, urteilt Volker Ladenthin. Und zwar auch »jene Fantasie, mit der sie ihr späteres Handeln planen«.

Schon seit Längerem ist bekannt, dass Jungen viel häufiger als Mädchen Gewaltfilme oder drastische Computerspiele wie etwa »World of Warcraft« konsumieren. Fachleute sehen hierin einen Grund für die schlechteren Schulleistungen der künftigen Männer. Auch das Bonner Experiment hat die Neigung zur Gewalt zutage gefördert.

Die Schüler ließen ihre Märchen oft in Blutorgien enden, die allerdings ebenso bemerkenswerte Ideen enthielten. In einem Fall trampelte King-Kong die Königstochter nieder, in einem anderen werfen die Amerikaner zum Lösen des Problems eine Atombombe. Gefochten wurde mit Messern, Schellfeuergewehren oder Präzisionswaffen, und Verona Feldbusch durfte als Autofahrerin kaltblütig die Hauptfiguren des Märchens überrollen. Die Schülerinnen hingegen kamen in ihren Schilderungen meist ohne Gewalt aus.

Besonders bestürzt haben Volker Ladenthin jene Märchenschlüsse, »die das Ziel – die Befreiung der Prinzessin – aus den Augen verloren hatten und nur noch eine Orgie von Gewalt darstellten«. Bei ihnen werde »Gewalt zum Selbstzweck«. Immerhin haben nicht nur die Mädchen in ihren Schilderungen auf Brutalität verzichtet. Auch manche Jungen hätten »auf klassische Märchenmotive, Zauber, List und Mut zurückgegriffen«, sagt Ladenthin. Nachdem diese Jungen erkannt hatten, dass die Hexe im Märchen Zauberkraft besaß, wollten die kleinen Autoren einen Weg finden, ihr diese zu rauben.

Die Bonner Studie »kann und will nicht nach den Ursachen von konkreten Gewaltverbrechen jugendlicher Täter fragen«, betont die Bonner Medienwissenschaftlerin Jessica von Wülfing. Das Experiment zeige immerhin, wie sehr Bilder aus den Medien die Vorstellungswelt Heranwachsender prägen. Der Projektinitiator Ladenthin hält das für eine »gefährliche Entwicklung«, denn in der Jugend lernten Menschen »das Vokabular, mit dem man die Welt begreift«.

Fehlen darin bestimmte Begriffe, zum Beispiel Mitgefühl, Liebe, aber auch Mitleid oder Schuld, führe das zu Defiziten in der Wahrnehmung und »in letzter Konsequenz auch im eigenen Verhalten«. Leider könne man in Horrorfilmen und Ballerspielen vieles lernen, aber kein Mitgefühl. »Die Medien drängen sich mit Bildern in die kindliche, sich erst entwickelnde Fantasie«, sagt der Erziehungswissenschaftler. Zwar könne man dies – eine gewisse Zeit lang – zu verhindern oder zu verzögern suchen. Wichtiger aber sei es, sozusagen »wertvolle Bilder rechtzeitig und als Alternative zur Verfügung zu stellen, so dass die Kinder eine lebbare, bedeutsame Alternative haben, wenn sie ihre Wünsche und Vorstellungen artikulieren«.

Gerade die Eltern sollten solche »Gegenbilder anbieten, starke, überzeugende, die Wirklichkeit aufschließende Bilder, Metaphern und Geschichten«. Und die Schule darf sich Ladenthin zufolge »nicht auf das Training formaler Kompetenzen beschränken, sondern muss die starken Geschichten wieder aufgreifen – kräftige und subtile Bilder, die uns verstehen helfen, wie es zugeht auf der Welt«.

Der Bonner Wissenschaftler rät Lehrerinnen und Lehrern dazu, den Märchen-Test selbst in ihren Klassen zu wiederholen. Wenn sich auch dabei herausstellen sollte, dass die Jungen sich schon in frühen Jahren als Drehbuchschreiber für Brutalo-Filme eignen oder gar als Gewalttäter zu enden drohen, bleibt ein Trost. Denn laut Volker Ladenthin sei »nicht auszuschließen, dass die Schüler sich bei ihren Antworten durch eine besonders blutige Geschichte vor ihren Klassenkameraden profilieren wollten«. Ein schwacher Trost, aber immerhin.

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