nd-aktuell.de / 07.10.2025 / Kommentare

»Radikal« in Zeiten der Staatsraison

Mithu Sanyal über die deutsche Unterstützung für Israel

Mithu Melanie Sanyal
Deutschlands Verhältnis zu Israel – »Radikal« in Zeiten der Staatsraison

Ich weiß inzwischen die Antwort auf die gerne in Podcasts gestellte Frage: »Wenn du in der Zeit zurückreisen könntest, was würdest du deinem fünfzehnjährigen Ich sagen?« Sie lautet: »In meinem Alter wird dein politischer Aktivismus daraus bestehen, deinen Staat anzuflehen, sich an das Grundgesetz zu halten.« Die jugendliche Anarchistin Mitu S. (wie ich damals geschrieben wurde, weil deutsche Behörden das bengalische Alphabet falsch transkribiert hatten) würde das so verstehen, dass sie irgendwann unweigerlich konservativ werden würde. Dabei ist, das Grundgesetz und das Völkerrecht und die Genfer Konvention zu verteidigen, eine der radikalsten Positionen, die man zur Zeit einnehmen kann. Willkommen in 2025! Willkommen in Zeiten der Staatsraison!

Dafür, dass das Wort in aller Munde ist, ist es merkwürdig vage. Steht die Staatsraison über dem Rechtsstaat? Über den Bürgerrechten? Ist sie mit einer Demokratie vereinbar? Spoiler: Nein, eine Demokratie muss sich in erster Linie an ihre Verfassung halten!

Lesen Sie auch: »Mehr Hybris als Ethik«[1] Francesca Albanese, UN-Sonderberichterstatterin für Palästina, verzweifelt an deutscher Staatsräson

Doch wenn man sich die aktuelle deutsche Politik anschaut, kommt man schnell zu dem Schluss, dass die Staatsraison – aka die Unterstützung des Staates Israel – über dem Gesetz steht. Wie kann es sein, dass Deutschland trotz des Urteils des Internationalen Gerichtshofs, dass alle Staaten der Welt Maßnahmen zum Schutz der Palästinenser vor Völkermord ergreifen müssen, weiterhin Waffen an Israel liefert? (Und ich möchte hier gar nicht die Diskussion aufmachen, ob Israel Genozid begeht. Wenn auch nur der Verdacht besteht – und der besteht laut nahezu allen Menschenrechtlern –, sind Staaten dazu verpflichtet, alles zu tun, um einen Völkermord zu verhindern.)

Aber wir liefern doch gar keine Waffen mehr? Fehlanzeige. Gerade haben US-Geheimdienstquellen sogar bestätigt, dass Deutschland das U-Boot geliefert hat[2], mit dem Israel Anfang September die Schiffe der Gaza-Flotilla in internationalen Gewässern angegriffen hat. Schiffe, auf denen sich auch deutsche Aktivist*innen befanden. Seit dem Exportstopp haben wir Waffenlieferungen im Wert von mindestens 2,46 Millionen Euro an Israel durchgewunken.

Zum Thema: »Ziel war immer, die Blockade zu durchbrechen«[3] Crew-Mitglied Judith Scheytt über Ziele der Hilfsflotilla nach Gaza und die Gefahren für die Beteiligten

Das ist der Grund, warum ich zusammen mit über 200 Wissenschaftler*innen das Expertenpapier »Jenseits der Staatsraison«[4] unterstütze, das die Bundesregierung anhält, das Völkerrecht zur Grundlage der Außenpolitik zu machen. Siehe oben: Bitte, bitte an die Verfassung halten! Wie konnte es so weit kommen?

Das Papier ist so toll, dass ich eigentlich nur daraus zitieren will: Deutschland »hat die Unterstützung für die israelische Regierung über die Grundrechte der Palästinenser, das Schicksal der israelischen Geiseln und regionale Friedensbemühungen gestellt.« Statt dessen müssen wir »die israelische und palästinensische Zivilgesellschaft unterstützen«, »ein gemeinsames historisches Narrativ/Versöhnung fördern« und »Gesprächskanäle offenhalten«. Und verdammt noch mal nicht weiterhin völkerrechtswidrig Waffen liefern!

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1194320.un-sondersberichtserstatterin-fuer-palaestina-francesca-albanese-mehr-hybris-als-ethik.html
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1194491.gaza-flottille-israel-soll-aktivisten-mit-deutschem-u-boot-angegriffen-haben.html
  3. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1194470.gaza-flottille-ziel-war-immer-die-blockade-zu-durchbrechen.html
  4. http://staatsraison.net