Ich arbeite mit meiner Stimme. In meinem hauptsächlichen Beruf als Performerin und als vorlesende Autorin. Aber auch in meinem Nebenjob als Museumsführerin.
Es ist passiert, ohne dass ich darauf vorbereitet war oder gelernt hätte, meine Stimme richtig zu benutzen. Sie ist ein Instrument geworden, mein Instrument geworden. Aber ich weiß nicht, wie man es stimmt – und so verstimmt es sich gern, von allein.
So sehr man nämlich davon ausgeht, die Stimme wäre »immer da«, so wie die Haut, die einen umgibt, so sehr kann sie einen auch manchmal verlassen. Immer dann, wenn man sie am ehesten gebraucht hätte. Und in welcher Form sie wiederkommt, weiß man nie so genau: Höher, tiefer, mit welchem Klang, weich oder hart. Meine instabile Stimme beschäftigt mich nun seit Monaten akut. Seit Jahren oder sogar Jahrzehnten latent. Auch Frauen kommen ja in den so genannten »Stimmbruch« oder »Stimmwechsel«.
Dennoch: Ich war es gewohnt, mich auf sie verlassen zu können. Meine Geheimwaffe zur Übermittlung geheimer Informationen in der nuancierten Aussprache – in den Nebensätzen, Betonungen, Pausensetzung, in der Atmung, dem Räuspern und den erweiterten Stimmtechniken, die man meistens unbewusst und mit komplexer Anbindung zum Inhalt vorträgt. Der »Inhalt«, das Zu-Übermittelnde, das gibt es nicht ohne das Instrument, das die Form herstellt. Und die Form ist hier die Stimme selbst. Auch dass sie so laut ist, »zu laut«, sagte man mir als Kind, ist häufig ein Vorteil, denn so kann ich in verschiedenen Räumen vor Menschen sprechen, ohne ein Mikrophon zu brauchen.
Die neue und gleichzeitig altbekannte Fragilität meiner Stimme ist also etwas, was mich im Alltag sehr anstrengt. Und natürlich produziert genau das eine Art Feedback-Loop: Je mehr Angst man um die Stimme hat, desto eher verlässt sie einen.
Jedenfalls bin ich wegen meiner Probleme kürzlich zu einer sogenannten »Phoniaterin« gegangen, einer Ärztin, die sich mit den Stimmbändern beschäftigt. Sie hat mir befohlen, meine Zunge herauszustrecken und hat die Zungenspitze in die Hand genommen und festgehalten. Dann hat sie mir einen langen Stab mit einer vorne befestigten Kamera in den Hals gesteckt. Noch nie vorher habe ich meine eigenen Stimmbänder gesehen. Die Ärztin befahl mir, weiterhin meine Zunge in der Hand haltend, Töne in verschiedenen Tonhöhen zu singen. Dann ließ sie meine Zunge los und gab mir eine Diagnose: Stimmbandödem mit unvollständigem Stimmbandschluss. Sie verschrieb mir zehn Sitzungen Logopädie. Wir gehen davon aus, dass wir zwei Lippen haben – oder vier. In Wirklichkeit haben wir aber sechs Lippen. In unserem Hals, dem Schlund, befinden sich die Stimmlippen. Unsichtbare, winzige Muskeln, die dafür verantwortlich sind, dass wir Töne erzeugen.
Als ich meine eigene Zunge sah, dachte ich an den Text der Psychoanalytikerin und Philosophin Luce Irigaray »When the lips speak together«. Es geht dabei darum, dass weiblich gelesene Menschen ja vier Lippen haben können, die immer, autoerotisch, miteinander in Kontakt sind. Anders als der Phallus, der eins ist, sind die Lippen immer schon komplex, vielschichtig, im Widerspruch mit sich selbst und darin auch selbstgenügsam. Hinter den Lippen ist ein Loch. Ein dunkles Loch. Ein Mysterium. Meine inneren, weiß-schimmernden, geschwollenen Stimmlippen auf dem Videoscreen betrachtend, denke ich also an meine Vulva, die Schamlippen. Die Ähnlichkeit ist frappierend. Auch unter den Stimmlippen ist ein schwarzes Loch, der Schlund.
Ich denke: Jemandem die Zunge abschneiden, wie in dem Märchen der Kleinen Meerjungfrau. Jemandem die Stimme nehmen. Den Mund verbieten. Hold your breath. »Having a voice, raising the voice«: Das wird in politischen Kontexten als emanzipatorische Praxis verstanden.
Die Sirenen, wie wir sie aus der Griechischen Mythologie kennen, singen so schön, dass man an ihrem Gesang vergeht. Boote kentern, weil sich die Bootsleute nicht mehr auf das Steuern konzentrieren können. Ihr Singen gleicht einem Schreien, einem lieblich-brutalen Ton aus einer anderen mystischen Dimension. Ob Himmel oder Hölle bleibt unklar. Zwischen Mensch und Tier.
Auch die Feuerwehrsirenen, die wir aus dem Alltag kennen und deren Geräusch wir häufig verdrängen, haben buchstäblich alarmierende, unheilverkündende, aber vielleicht ebenso betörende Wirkung.
Die (Feuerwehr-)Sirenen singen laut auf der Straße vor dem Haus, tagsüber und nachts. Ich höre ihnen selten genau zu. Ihr Heulen klingt weniger klagend als beruhigend für mich. Fast wie ein Spielzeug. Etwas, das es nur in Filmen gibt. Niemals wie eine reale Bedrohung. Dafür wie ein Geräusch, das ein Signifikant für »Zuhause« ist. Das Maschinengeräusch imitiert das schreiende Singen der Sirenen. So wie ein schwedischer Opernsänger Anfang des 20. Jahrhunderts versteckte Geisterstimmen vom Tonband hörte, die ihn direkt ansprachen, als er versuchte, Vogelstimmen aufzunehmen. Deus ex machina, der Geist aus der Maschine, die Maschine als Gott-Ersatz.
Und D. sagt: In der Stadt schreien die Vögel, auf dem Land singen sie. In den Bergen hört man sie kaum. Und Heiner Müller schreibt: Vögel sind ein Abschied, sind ein Wiedersehen. Und eine deutsche Juristin schreibt: Wenn man das Nachdenken für einen Augenblick unterbricht, sind Unmengen an Vogelstimmen zu hören.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1194564.spass-und-verantwortung-sechs-lippen.html