Die palästinensische Autorin Rimona Afana beschreibt in der Zeitschrift »Current Affairs«[1] eine bislang wenig beachtete Seite des Gaza-Krieges: die Zerstörung von Friedhöfen sowie die Auswirkungen der israelischen Offensive auf Schwangere und Ungeborene. Grundlage ihrer Analyse sind Berichte internationaler Organisationen, Satellitenaufnahmen und Zeug*innenaussagen. Zwar erschien der Beitrag im vergangenen September, fast alle der zugrundeliegenden Daten sind jedoch mehr als ein Jahr alt.
Der Bericht beginnt mit einer Nachricht von Afanas damals 13-jähriger Schwester aus Rafah: »Sie haben angefangen, die Gräber zu bombardieren. Es gibt keine Sicherheit mehr, selbst für die Toten.« Bereits im Mai 2021 seien dort Gräber durch israelische Luftangriffe beschädigt worden. Laut Afana und der Organisation Euro-Med Human Rights Monitor wurden seither zahlreiche weitere Friedhöfe in Gaza zerstört oder beschädigt. Bis Ende 2023 seien mindestens 16 Friedhöfe in Gaza durch Bombardierungen, Bulldozer und Graböffnungen besonders nach dem 7. Oktober beschädigt worden. Aufnahmen zeigten, dass einige der Stätten in militärische Stellungen umgewandelt wurden. Andere seien vollständig eingeebnet worden, sodass Angehörige die Gräber nicht mehr auffinden konnten. Hinzu kämen undokumentierte Tote: Im Januar 2024 habe Israel beispielsweise 88 nicht identifizierte Leichen nach Gaza zurückgeführt, angeblich ohne Angaben zu deren Herkunft oder Todesumständen.
In manchen Teilen des Gazastreifens lebten laut »Current Affairs« mittlerweile Geflüchtete in Zelten auf einem Friedhofsgelände. Ein Mann, der im Ansar-Friedhof in Deir al-Balah Unterkunft gefunden habe, sagte Afana: »Wir sind so tot wie die, die in den Gräbern liegen. […] Der einzige Unterschied ist, dass unsere Vorfahren unter der Erde sind und wir darüber.« In Ost-Jerusalem wiederum hätten dem Bericht zufolge israelische Gerichte Palästinenser*innen auf manchen Friedhöfen das Bestattungsrecht entzogen.
Neben der Situation in Grabstätten beschreibt Afana in ihrem Artikel auch die Auswirkungen des Kriegs auf schwangere Frauen und Ungeborene. Ihr Vater, ein Gynäkologe in Rafah, habe bereits 2009 dokumentiert, dass Bombardierungen Fehlgeburten verursachen könnten. Neuere Daten[2] belegen einen deutlichen Anstieg: Nach Angaben der International Planned Parenthood Federation sind etwa Fehlgeburten in Gaza seit Oktober 2023 um 300 Prozent gestiegen.
Das Büro der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (UNOCHA) meldete bis September 2025 insgesamt 65 062 getötete und 165 697 verletzte Palästinenser*innen, 83 Prozent davon Zivilistinnen. Zu Kriegsbeginn seien rund 50 000 Frauen schwanger gewesen, mit durchschnittlich 180 Geburten pro Tag. Nach Schätzungen des International Rescue Committee seien allein in den ersten sechs Monaten täglich 37 Schwangere ums Leben gekommen.
Afana beschreibt, dass die medizinische Versorgung infolge der Angriffe nahezu zusammengebrochen sei. Mehr als 1580 Ärzt*innen, Pfleger*innen und Sanitäter*innen seien getötet worden, die meisten Krankenhäuser zerstört oder unbrauchbar – das verschärfe die Lage zusätzlich, denn Schwangere litten bereits besonders unter dem Mangel an Medikamenten, sauberem Wasser und Lebensmitteln. Laut Medical Aid for Palestinians seien 44 Prozent der schwangeren und stillenden Frauen von schwerer Mangelernährung betroffen.
Auch Reproduktionszentren seien »Current Affairs« zufolge von israelischen Angriffen betroffen gewesen. Beim Beschuss des Al-Basma-IVF-Zentrums im Dezember 2023 seien nach Angaben des Klinikleiters beispielsweise mehr als 4000 Embryonen sowie 1000 Eizellen und Spermien zerstört worden. »Ich sehe all diese Faktoren – die Tötung schwangerer Frauen, die Zerstörung von Embryonen, Fehlgeburten infolge körperlicher und psychischer Traumata, infolge von Mangelernährung, Dehydrierung, Infektionskrankheiten und fehlender geburtshilflicher Versorgung – als Verbrechen an den Ungeborenen«, schreibt die Autorin.
Damit seien auch Bestimmungen des humanitären Völkerrechts verletzt, folgert Afana, wonach die Zerstörung religiöser Stätten ebenso verboten ist wie Handlungen, die auf die Verhinderung von Geburten zielen. Belege für eine gezielte Verhinderung von Geburten führt die Autorin nicht an, sieht dieses »unbirthing« aber als Teil von Israels Siedlerkolonialismus.
Egal ob die Handlungen bewusst oder versehentlich erfolgen, verstießen diese laut Afana gegen die UN-Völkermordkonvention, deren Artikel II sowohl die »Tötung von Mitgliedern einer Gruppe« als auch »Maßnahmen zur Geburtenverhinderung« umfasst. Damit trage Israels Vorgehen gegen Ungeborene – und Gestorbene – zum Genozid in Gaza bei.