nd-aktuell.de / 09.10.2025 / Reise

Tanz der Kraniche

Zwischen Bodden und Deich erleben Naturfreunde auf Zingst das spektakulärste Schauspiel des Nordens

Nicole Quint
Kraniche im Landeanflug
Kraniche im Landeanflug

Der sehnlichste Wunsch von drei Dutzend Menschen, die sonst vermutlich nur wenig gemein haben, geht gerade in Erfüllung. Schon seit gut einer Stunde stehen sie sich auf der Zingster Deichkrone die Beine in den Bauch. Ferngläser griffbereit, Spektive ausgerichtet, Kameras mit lichtstarken Objektiven im Anschlag, warten sie auf den Sonnenuntergang und das Ankommen der Kraniche. Geduld ist eben doch die größte Tugend.

Und hier, auf der Halbinsel Fischland-Darß-Zingst[1], die zu großen Teilen im Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft liegt, werden Hobbyornithologen im Herbst auch garantiert für ihre Beharrlichkeit belohnt. Die hiesigen Dünen, Moore, Windwatte und Salzgrasflächen gelten bei durchreisenden Graukranichen auf ihrem Zug in den Winterurlaub als ideale Raststätten. Von September bis Ende Oktober treffen sie in immer neuen Wellen aus Skandinavien, den baltischen Staaten und Belarus in Mecklenburg-Vorpommern ein. Tagsüber futtern sie sich auf den Äckern fett und finden sich später in den Uferzonen der Bodden zum Schlafen ein.

Auf Fischland-Darß-Zingst übernachten die meisten im Flachwasser bei Pramort und den Werder Inseln. Einige Tausend haben ihr Nachtlager jedoch fest auf der Großen Kirr gebucht. Die kleine Insel, dreieinhalb Kilometer lang und maximal anderthalb Kilometer breit, ragt gerade mal einen Meter aus dem Barther Bodden heraus, sodass ihre Flächen regelmäßig überflutet werden. Ein Salzgrasparadies, nur wenige Meter vom Zingster Deich entfernt, wo Kranichverehrer immer noch ausdauernd auf die allabendlichen Rückkehrer warten.

Wo die Kraniche heimkehren

Wenn nur die Mücken nicht wären. Die treffsicheren Plagegeister kassieren selbst im Oktober noch einen hohen Blutzoll bei ihren Opfern. Doch jetzt gerät die im Juckreiz vereinte Menschenmenge in Bewegung. Endlich! Da kommen sie! Kilometerweit sind ihre Trompetenfanfaren zu hören, und nun tauchen die ersten Graukraniche am Horizont auf. In typischer Keilformation malen sie ihr unverkennbares V an den Himmel und segeln dann in langen Ketten allmählich herab. Die Flügel weit gespannt, die Hälse gereckt, die langen Beine baumelnd, bereit zur Landung. Unter empörtem Geschnatter machen einige Graugänse den Neuankömmlingen Platz. Die beiden eleganten Silberreiher, die aus dem Schilf hervortreten, bleiben völlig unbeachtet. Die geballte Aufmerksamkeit gilt allein den silbergrauen Schönheiten, die sich in Gruppen von Hunderten auf ihrem Inselschlafplatz sammeln.

»Vögel des Glücks« werden sie auch genannt, weil ihre Ankunft Anfang März einst als Vorzeichen für den baldigen Frühling, für Wärme und Nahrungsfülle gefeiert wurde. Großzügig verschwiegen wird allerdings, dass sie all das Gute auch wieder mitnehmen, wenn sie nach ihrem zweiten Gastspiel im Jahr Ende Oktober weiter in ihre Winterquartiere nach Südeuropa ziehen.

»Krru, krru, krru« – so klingt Glück in der Dämmerung.

Ein Zweitname wäre also angebracht, vielleicht »Seelenspediteur«. Die alten Iren nahmen an, Kraniche würden die Seelen Verstorbener von einer zur nächsten Inkarnation transportieren. Befähigt seien die Vögel für diese Aufgabe, weil sie mit einem einzigen offenen Auge direkt in das Jenseits blicken und einfach zwischen den Welten reisen, indem sie vom ein- in den beidbeinigen Stand hin- und herwechseln.

An so einen spirituellen Übergang muss man glauben, den atmosphärischen aber kann man sehen und inzwischen auch fühlen. Den Wartenden auf dem Zingster Deich kriechen Wind und Kälte immer hartnäckiger unter ihre Jacken. Kranichzeit ist eben die Zeit der länger werdenden Nächte, der stilleren und farbloseren Tage, an denen selbst die Wintersonne nur noch als blasser Kiesel über den Himmel schleicht. Bis es so weit ist, spannt der Herbsthimmel am Abend eine rot glühende Decke über den Barther Bodden – eine dramatische Kulisse für die Abschiedsshow der Kraniche.

Magie der Abendrufe

Ein Schwarm folgt inzwischen dem nächsten. Nach etwa zwei Stunden ebbt die Rushhour ab. Während sich die Große Kirr langsam gefüllt hat, wird es auf der gegenüberliegenden Deichkrone zunehmend leerer. Der Tag verliert sein letztes Licht. Die Mücken sind satt, jetzt beißt einen aber die durchdringende Kälte.

Zu sehen gibt es drüben nichts mehr, dafür umso mehr zu hören, und je undurchdringlicher das Dunkel, desto klarer werden nun die Töne. »Krru, krru, krru, krru« und »grööhh, grööhh« – das klingt nicht nach Schlafsaal, sondern eher wie lautes Partygeplauder. Warn-, Such- und Kontaktrufe nennt das der Fachmann, und wer es einmal gehört hat, der glaubt, echte Wiedersehensfreude in den gurrenden und kollernden Melodien der Trompeter und Sänger zu erkennen. Ein gewaltiges Großkonzert für ein Publikum von zwei, drei Personen.

Während die noch darüber nachdenken, ob Kraniche sich Gute-Nacht-Geschichten erzählen, die Abflugzeiten für den nächsten Morgen abstimmen oder dem Nachbarn Navigationstipps geben, kehrt auf der Insel langsam Ruhe ein. Auf der gegenüberliegenden Seite verharren die Menschen noch lange in Stille, um den Zauber des gerade erlebten nicht zu verscheuchen und auszukosten, wie aberwitzig glücklich es machen kann, in die Schwärze der Nacht zu lauschen.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1162661.nationalpark-vorpommersche-boddenlandschaft-seeadler-und-monsterkeiler.html?sstr=zingst