In einem Moment zeigen sie sich in ihrer ganzen majestätischen Schönheit, im nächsten sind sie wieder verschwunden: Die schwärzlich-ockerfarbenen Felsmassive spielen Versteck mit Nebelschleiern, die in ziemlichem Tempo über die Berglandschaft hinwegziehen. Rechts der 3173 Meter hohe Cima Tosa, links der 3135 Meter hohe Crozzon di Brenta, geben die höchsten Gipfel der Brenta-Dolomiten ein unglaubliches Naturschauspiel ab. Das noch dazu von Musik untermalt wird.
Während wir zusammen mit Hunderten von Menschen auf der Almwiese sitzen oder liegen, ertönt das Quintett op. 163 von Franz Schubert. Mit teils elegischen, teils stürmisch-virtuosen Klängen führt es einen denkwürdigen Dialog mit der Landschaft, die sich vor Millionen von Jahren unter Wasser formierte.
Das Konzert ist einer der Höhepunkte des Festivals »I Suoni delle Dolomiti« (Dolomitenklänge), das in jedem Jahr von Ende August bis Anfang Oktober Jazz, Klassische, Balkan- und Weltmusik in die Berge des Trentino bringt und in diesem Jahr sein 30-jähriges Bestehen feiert. Mal singen okzitanische Chöre an einem Bergsee im Val di Fiemme (Fleimstal), mal mischt die Kubanerin Ana Carla Maza mit ihrem Latin Sound San Martino di Castrozza auf oder es geben Oboisten der Berliner Philharmoniker eine originelle Version der »Zauberflöte« zum Besten.
Als würden hier zwei Seelen miteinander kämpfen.
Cellist Mario Brunello und das Quartetto Prometeo belassen es indessen nicht bei einem einfachen Konzert. Bevor die fünf Streicher ihrem Publikum auf 2000 Metern Höhe musikalischen Hochgenuss im wahrsten Sinn des Wortes bescheren, begleiten sie uns auf einer dreitägigen Trekkingtour in die luftigen Höhen der Brenta-Dolomiten und die Abgründe der Schubertschen Seele.
Ausgangspunkt ist Madonna di Campiglio, beliebte Wintersportdestination, die auch im Sommer einen immer größeren Ansturm von Besuchern verzeichnet. Vor allem die Klettersteige locken viele Alpinisten, die sich an der einen oder anderen Via Ferrata versuchen wollen. Im September ist allerdings Nachsaison, das Tausend-Seelen-Dorf auf 1500 Metern wirkt fast wie ausgestorben. Dennoch haben sich morgens um neun rund 40 Menschen am zentralen Parkplatz versammelt.
Zu musikaffinen Wanderern aus Italien und anderen Ländern gesellen sich mehrere Bergführer sowie die Musiker mitsamt ihren Instrumentenkoffern. Nachdem die organisatorischen Fragen geklärt sind, schultern alle ihr Gepäck, die Karawane setzt sich in Bewegung. Einer hinter dem anderen steigen wir oberhalb von Madonna di Campiglio durch dichten Mischwald. Als er sich lichtet, machen wir nach etwa eineinhalb Stunden die erste Pause.
Während die einen Trinkflaschen und Müsliriegel herausholen, packen die Musiker – Mirei Yamada, erste Violine, Aldo Campagnari, zweite Violine, Danusha Waskiewicz, Viola sowie die Cellisten Francesco Dillon und Mario Brunello – ihre Instrumente aus. Letzterer hat sogar ein Cello des Geigenbauers Giovanni Palo Maggini aus dem 17. Jahrhundert dabei. Dann setzen sie zum ersten Satz des Quintetts an. Allegro ma non troppo, »fröhlich, aber nicht zu sehr« soll er gespielt werden.
Die Eingangsmelodie wird in unendlichen Wendungen variiert, dabei klingen bereits die völlig gegensätzlichen Stimmungen an, die sich durch das Quintett ziehen. Spielerisch-heitere, an ungarische Tänze erinnernde Passagen wechseln ab mit düster-melancholischen, als würden hier zwei Seelen miteinander kämpfen.
»Das Quintett ist ein Meisterwerk aus Schuberts Spätzeit«, erklärt Brunello. »Er hat es wahrscheinlich im September 1828 vollendet, kurz bevor er mit nur 31 Jahren starb. Er hat es selbst auch gar nicht mehr zu hören bekommen.« Umso andächtiger lauschen wir den Streichern, die hier und da auch schon mal ein paar Takte wiederholen, sie mal in schnellerem, mal in langsamerem Tempo proben und uns an den vielfältigen Interpretationsmöglichkeiten teilhaben lassen.
Ähnlich verfahren sie später auch mit dem dritten Satz. Inzwischen sind wir – nach einem deftigen Mittagessen im Rifugio Casinei mit der unvermeidlichen Trentiner Polenta und steilem Aufstieg durch die Gebirgslandschaft – an der Tuckett-Hütte auf 2272 Höhenmetern angekommen, die sich unter bedrohlichen Felstürmen duckt, sogenannten Glockentürmen. Am frühen Abend ist es feuchtkalt. Über den Geröllfeldern neben dem Rifugio, ein wahrhaftes geologisches Delirium, breitet sich gespenstischer Nebel aus.
Nach der Einteilung der Schlafräume freuen wir uns auf ein wärmendes Abendessen und einen guten Trentiner Tropfen. Und jetzt sollen wir noch mal nach draußen gehen? »Si, si, andiamo«, ermuntert uns Brunello. Etwas widerwillig schlüpfe ich wieder in den Anorak und schnüre die Bergstiefel. Doch als wir auf einer Art Felsplateau sitzen und auf das lebhafte Scherzo aus dem dritten Satz die flehentlichen Legato-Klänge des Trios folgen, sind wir alle wie verzaubert. Auf geradezu magische Weise hat uns die Musik mit der unwirtlichen Bergwelt und der abendlichen Kälte versöhnt.
Ganz beseelt laufen wir zurück zur Hütte, wo uns Speckknödel-Suppe, Grillkäse und Wildragout erwarten. Und ein musikalisches Kontrastprogramm, bei dem alle im Takt auf die Tische klopfen und mit ihren Löffeln an die Gläser tippen dürfen, sodass die Stimmung in der Hütte irgendwann nicht mehr zu toppen ist.
Mario Brunello ist nicht nur herausragender Cellist. Als künstlerischer Leiter des Festivals versteht er sich offensichtlich auch auf Dramaturgie. Während wir auf schmalen, zum Teil mit Drahtseilen gesicherten Pfaden durch die atemberaubenden Felsformationen wandern – mit Auf- und Abstiegen von bis zu 900 Metern –, lässt er die einzelnen Sätze des Quintetts immer genau im richtigen Moment und an der richtigen Stelle spielen. Je höher wir steigen – die zweite Nacht verbringen wir im Rifugio Alimonta auf immerhin knapp 2600 Metern –, desto tiefer tauchen wir in Schuberts Quintett und die Seelenlandschaft des Komponisten ein.
Den zweiten Satz hebt sich Brunello ganz bewusst bis zuletzt auf. Nichts ist ergreifender als dieses fast schon meditative, in Liedform komponierte Adagio mit seinem stürmisch-turbulenten Mittelteil. Noch dazu, wenn es in einer menschenleeren, steinernen Arena erklingt, Welten entfernt von sonstigem Tagesgeschehen. Vor meinem geistigen Auge sehe ich, wie die Dolomiten vor Millionen von Jahren als Riffe und Atolle von einem tropischen Meer mit Fischen, Korallen- und Muschelkolonien überflutet waren, um später als bizarre Karst- und Kalkstein-Formationen in die Höhe zu wachsen. Was kümmert mich da noch der Muskelkater in den Waden? Der schwere Rucksack auf dem Rücken? Die nicht eben erholsamen Nächte in den Gruppenschlafräumen oder der Umstand, dass es auf der Hütte – in Italien! – zum Frühstück keinen echten Kaffee gibt?
Anders als in einem Konzertsaal schweißt das gemeinsame, intensive Musikerlebnis in der Weltnaturerbe-Landschaft uns Bergwanderer zusammen. Mitsamt den Musikern, die jenseits aller Starallüren ganz nahbar sind, ein Teil der Gruppe. Kein Wunder, dass viele sich beim Abschied gleich für die Trekkingtour im nächsten Jahr verabreden. Ciao, ci vediamo, heißt es immer wieder. Wir sehen uns. Was auch immer dann statt Schubert auf dem Programm steht.
Die Recherche wurde unterstützt von Trentino Marketing.