Muss gute Kunst einem Schmerz entspringen oder nicht? Diese Frage ist so alt wie die Kunst selbst. Auch Cate Le Bons siebtes Album »Michelangelo Dying« wird dieses Dilemma nicht in Wohlgefallen auflösen können. Immerhin aber bietet es der Pro-Schmerz-Fraktion gute Argumente – sehr gute sogar.
Denn die seelische Pein ist auf dieser neuen Platte der walisischen Indie-Musikerin allgegenwärtig. Mit ihm überwand sie ihre jahrelange Abneigung, ein Album über die Liebe in all ihrer Abgründigkeit zu machen. Das Ergebnis gibt ihr recht – schimmert es doch in ähnlich vielschichtiger Weise wie das Gefühl, das ihm zugrunde liegt: Mal tieftraurig und niederschmetternd, dann wieder erhaben und von vollkommener Schönheit.
Vielleicht wird Le Bon sich gedacht haben, dass ein Album über so einen einzigartigen Seelenzustand auch eines einzigartigen Sounds bedarf. Das zumindest würde erklären, warum es sich klangtechnisch radikal von ihren Vorgängerwerken »Reward« (2019) und »Pompeji« (2022) unterscheidet, die von kammermusikalischem Experimental-Art Pop mit Folk-Schlagseite geprägt waren.
Auf »Michelangelo Dying« hingegen werden musikalische Einflüsse deutlich, die in ihrem bisherigen Werk weitgehend verborgen geblieben waren. Vor allem erinnern diese zehn Songs an die schottische Band Cocteau Twins[1] um Sängerin Elizabeth Frazer, die mit ihren insgesamt acht veröffentlichten Alben in den Achtziger- und Neunzigerjahren zu Ikonen des Dream Pop wurden.
Ähnlich ätherisch und weltabgewandt klingen auch Le Bons neue Stücke wie »Is It Worth It (Happy Birthday)?« oder »Heaven Is No Feeling« in all ihrer elegischen Eleganz. Was dabei Gitarre ist und was Synthesizer, ist inmitten der verhallten, Effekt-getränkten Klangkulissen nicht immer klar auszumachen. Diese beiden Stücke verdeutlichen darüber hinaus auf eindrucksvolle Weise, dass Schönheit und Schmerz weit mehr gemeinsam haben als – in deutscher Sprache – den Anfangslaut.
Der schleppende Opener »Jerome« wiederum könnte auch gut und gern der düsteren »Disintegration«-Phase von The Cure aus den späten 80ern entspringen – anders als das treibende »Mothers of Riches«, das noch am ehesten an frühere Arbeiten von Le Bon erinnert. Eine weitere, eher abstrakt zu verordnende Referenz wird durch einen flüchtigen Blick in die Liner-Notes wachgerufen: Denn das vorletzte Stück »Ride« nahm die Waliserin mit John Cale[2] auf, dem noch lebenden und konstant musizierenden Altmeister der Velvet Undergound[3], der ähnlich wie Le Bon selbst stets zwischen Artifizialität und Pop-Appeal mäandert. Wie Cale tritt auch Le Bon als ihre eigene Produzentin in Erscheinung und spielte wie schon auf ihren vorherigen Alben zahlreiche Instrumente auf »Michelangelo Dying« selbst ein.
Vielleicht darf man diese Kollaboration auch als ein symbolisches Bild betrachten: Die Experimental-Pop-Legende von einst übergibt den Staffelstab an seine würdige Nachfolgerin. Der Anlass jedenfalls hätte nicht besser gewählt werden können.
Cate Le Bon: »Michelangelo Dying« (Mexican Summer)
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1194629.dream-pop-zwischen-schoenheit-und-schmerz.html