Bisweilen hat man den Eindruck, die hochtechnologisch fortgeschrittene Welt entwickelt sich in einem beängstigenden Tempo weiter, während die Menschheit minütlich dümmer wird. Oder sagen wir statt »minütlich dümmer wird«: dem realen Leben nicht mehr gewachsen ist.
Die aus diversen dystopischen Science-Fiction-Filmen und -Romanen stammende Prognose jedenfalls, dass irgendwann die Maschinen/Computer die Macht über die Erde übernehmen, scheint heute, wo irgendwelche Schwachsinnsalgorithmen nicht nur das Verhalten, den Konsum und den Alltag vieler Menschen, sondern die ganze Weltökonomie steuern, nicht mehr gar zu abseitig.
Die weltweit vorhandene Menge an Selfies, auf denen Menschen zu sehen sind, die grinsen oder einen Kussmund machen, wächst rasanter als die Weltbevölkerung oder die Folgen des Klimawandels.
Google, Amazon und Microsoft haben den Kapitalismus in ein neues Stadium geführt, eine Art moderne, hochtechnisierte und computerisierte Sklavenhaltergesellschaft, in der der Mensch mehr denn je zu Humanmaterial verkümmert.
Ich muss in letzter Zeit oft an jene kulturpessimistische Technik- und Medienkritik des Philosophen Günther Anders denken, die er in den 1950er Jahren in seinem Hauptwerk »Die Antiquiertheit des Menschen« entwickelt hat: Der Mensch, so Anders, sei im industriellen Zeitalter mehr und mehr zu einem Anhängsel einer ihn überwuchernden und überfordernden Maschinenwelt geworden, von der er sich mehr und mehr abhängig macht und deren Begleiterscheinungen und Folgen er nicht mehr überschauen könne. Indem er sich arglos den Maschinen/neuen Technologien überlasse oder sich an ihre Wirkungsweise anpasse, erfahre er einen Ich- und einen Welt-Verlust zugleich: Realitätserleben finde nicht mehr statt, die Wirklichkeit erfahre der Massenmedienkonsument und Fernsehzuschauer nur noch als »Phantom«.
Anders analysierte, dass der Mensch mit seinen eigenen Produkten – den damals neuen audiovisuellen Medienmaschinen (Radio, Fernsehen) ebenso wie der Arbeitswelt (Fließband) und den modernen Nuklearwaffentechnologien – nicht mehr Schritt halten könne. Und dass die Kluft zwischen der Fähigkeit des Menschen, etwas herzustellen und dem Vermögen, vernünftig damit umzugehen oder sich die Konsequenzen dieses Herstellens tatsächlich vorzustellen, unentwegt größer werde.
Werfen wir einen kurzen Blick auf die Gegenwart, wie sie 70 Jahre, nachdem Anders seine Studie publiziert hat, aussieht: Schon Kleinkinder sind heute oft handy- und internetsüchtige Smombies oder weisen schwere psychische Störungen auf, weil die Ideologie- und Bildermaschine des Internets, von der sie zugeballert werden, bereits ihren Wahrnehmungsapparat schwer beschädigt hat. Jugendliche, von klein auf permanent gefüttert mit Propaganda, kulturindustriellen Abfällen und digitalem Bildersalat jeder Art, wachsen zu verhaltensgestörten, denkunfähigen, empathielosen, konsumbesessenen, narzisstischen Erwachsenen heran, die reine Ideologiebehälter sind, nie einen kritischen Verstand entwickelt haben, in Regression erstarrt sind, ausschließlich wiederkäuen, was sie zuvor »im Internet gesehen« haben, und nur an der Befriedigung eigener Neigungen interessiert sind. Ihre Konzentrationsfähigkeit ist mit der eines hypernervösen Frettchens zu vergleichen. Auch das selbstständige Denken und die Begriffe sind größtenteils suspendiert: Sieht man von der infantilen, armseligen Rest- und Stummelsprache ab, in der heute nahezu alle kommunizieren, regiert Begriffslosigkeit. Ansonsten gilt: Obey, Consume, Conform.
Die Menschen erfahren nichts und lesen nichts, sondern machen hauptsächlich Fotos von sich selbst, die sie danach nie wieder ansehen: Die weltweit vorhandene Menge an Selfies, auf denen Menschen zu sehen sind, die grinsen oder einen Kussmund machen, wächst rasanter als die Weltbevölkerung oder die Folgen des Klimawandels.
Gleichzeitig wird uns die Allgegenwart und ständige Verfügbarkeit überflüssiger »Informationen« – im Dauermodus mit Reklame untermischt, wobei Reklame und Informationen häufig nicht mehr voneinander unterscheidbar sind – als »Freiheit« verkauft. Im Internet oder auf dem Smartphonedisplay gibt es alles, was man will, nur nicht das, was man braucht.
Nicht ausgeschlossen, dass »Freiheit« zurzeit der am meisten missbrauchte Begriff ist: »Freiheitlich« nennen sich heute die Rechtsextremen; die »Freiheit«, von der Carsten Linnemann spricht, ist die Freiheit der deutschen Arbeitgeberverbände und die Freiheit, einen Job für fünf Euro Stundenlohn annehmen zu dürfen; »Freiheit« ist die Freiheit, zwischen 27 verschiedenen schlechten Fernsehprogrammen oder Speiseölen zu wählen; »Freiheit« ist die Freiheit der Medien, jeden Tag Kommentare zu drucken und zu senden, die klingen, als seien sie vom Pressesprecher der AfD verfasst worden. »Freiheit« ist die Freiheit, bedingungslos Ja zu sagen zur beständigen Selbstradikalisierung dieses Gesellschaftssystems oder in ihm unterzugehen.
Ich bin mir nicht sicher, ob wir auch in einer zweifelsohne zu erwartenden schlechteren Gesellschaft weiterhin massenhaft mit Werbeclips, Desinformation, Bildern fahnenschwenkender, brüllender Fanatiker und Fotos von süßen kulleräugigen Hundewelpen konfrontiert werden, befürchte es aber. Nicht zu vergessen die Fotos, auf denen zu sehen ist, wie Markus Söder Würste verschlingt. Sicher ist jedenfalls: Von alleine aufhören wird das alles nicht.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1194679.die-gute-kolumne-tanz-den-algorithmus-baby.html