Seit einigen Jahren habe ich das Gefühl, dass manche in Europa am liebsten die Mauer – oder wenigstens einen Zaun – zwischen Ost und West wieder aufrichten möchten», bedauert Radka Denemarková und erinnert an die von Václav Havel gegründete Charta 77. Sie sei der erste bedeutende Akt der staatsbürgerlichen Aufrichtung im sogenannten Ostblock gewesen, merkt die Schriftstellerin und Übersetzerin aus Prag stolz an. «Sie brachte eine Atmosphäre der Gleichheit, Solidarität, Zusammengehörigkeit, Gemeinschaft und aufopferungswilligen Bereitschaft, sich gegenseitig zu helfen, in die Gesellschaft.» Und heute?
Maik Reichel, Direktor der Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt, und Wolfram Tschiche, ebenfalls in politischer Bildungsarbeit unterwegs, baten osteuropäische Autoren und Autorinnen, sich zur Stimmung in ihrem jeweiligen Land zu äußern. Nicht nur ob des Jubiläums des Umbruchs in den sogenannten realsozialistischen Staaten, sondern auch des beunruhigenden Erstarkens rechtspopulistischer Bewegungen und Parteien, «die mit ihrer nationalistischen und antieuropäischen Agitation in den vergangenen Jahren politische Erfolge erzielten und damit das europäische Projekt einer gemeinsamen demokratischen und multikulturellen Zukunft infrage stellen». Viele Autor*innen treibt darüber hinaus «äußere Bedrohung» um.
Die Autorenschaft rekrutiert sich aus Journalisten, Schriftstellern, Diplomaten, Akademikern, Museologen sowie Bürgerrechtlern. Der prominenteste Autor dürfte wohl György Dalos sein. Der seit Jahrzehnten in Deutschland lebende ungarische Schriftsteller reflektiert die EU-Ost- und -Südosterweiterung. Der Integrationsprozess sei zunächst recht ausgewogen verlaufen, trotz einiger Krisen in den postkommunistischen Staaten. Doch: «Spätestens mit der globalen Finanzkrise 2008/09 wurde deutlich, auf welch dünnem Eis sich die europäische Solidarität befand.» Es schlug die Stunde der Populisten. Als weitaus größere Herausforderungen wertet Dalos sodann das Erscheinen der Flüchtlinge aus dem Globalen Süden, die «einen Kulturschock» ausgelöst hätten, «der unabhängig von der tatsächlichen Gefahrenstufe schließlich Mehrheiten gegen die Einwanderung zu mobilisieren vermochte», sowie Putins Angriff auf die Ukraine, der «einen beinahe apokalyptischen Schatten auf die Weltpolitik» werfe.
Marek Prawda aus Warschau ist der Überzeugung, dass man im Westen von diesem Überfall nicht derart überrascht gewesen wäre, hätte man die Ereignisse vor 35 Jahren in Mittel- und Osteuropa nicht lediglich auf einen «Zerfall ineffektiver Systeme an der Peripherie» des Kontinents reduziert und als «eine wenig bedeutende Fußnote der Geschichte» abgetan. Der ehemalige Botschafter, unter anderem bei der EU in Brüssel, wünscht sich, dass die Erfahrungen der Osteuropäer stärker Eingang ins westeuropäische Gedächtnis fänden.
Auch das Geleitwort stammt aus der Feder eines Polen. Aleksander Kwaśniewski, Präsident von Polen 1995 bis 2005, würdigt den «Herbst der Nationen» vor 35 Jahren. Überraschend ist Albanien hier vertreten: Jonila Godole, Dozentin für Journalistik in Tirana, berichtet über die Enttäuschung ihrer Landsleute angesichts der langwierigen bürokratischen Prozedur auf dem Weg in die EU. Unter der Überschrift «Barbie und andere Mythen des osteuropäischen Feminismus» berichtet Natalka Sniadanko aus Lwiw über den Kampf um Frauenrechte in der Ukraine, wo es elf Jahre währte, bis die Istanbul-Konvention unterschrieben wurde – allerdings nur «aus Furcht davor, dass eine Ablehnung einen negativen Einfluss auf den EU-Kandidatenstatus der Ukraine haben könnte».
Alida Bremer mit dalmatischem Familienhintergrund, die den alphabetisch sortierten Reigen der Autor*innen eröffnet, zitiert den kroatischen Satiriker und Theaterautor Predrag Lucić: «Jugoslawien war unsere erste EU. Mit all seinen guten und schlechten Seiten. Von Jugoslawien, genauso wie von der EU haben die Besten geträumt. Zerstört wurde es von den Schlechtesten.»
Herausgeber Tschiche, dereinst in der Friedens- und Oppositionsbewegung der DDR aktiv, beendet seine Überlegungen zu «Vielfalt und Homogenität» mit dem flammenden Appell: «Wir müssen die rechtspopulistischen und rechtsradikalen Verächter demokratischer Spielregeln politisch und juristisch daran hindern, mittels nationalistischer und völkischer Identitätspolitik sowie der Verbreitung xenophober Einstellungen das multikulturelle Europa zu zerstören.» Ein lesenswerter, höchst informativer Band, dessen stärkster Satz von Radka Denemarková kommt: «Wir sind Europa!»
Maik Reichel/Wolfram Tschiche (Hg.): Durch den Eisernen Vorhang nach Europa. Osteuropa nach 1989. Leipziger Universitätsverlag, 395 S., geb., 49 €.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1194720.osteuropa-wir-sind-europa.html