nd-aktuell.de / 14.10.2025 / Kultur

Gastland Philippinen: Warten auf den nächsten Mord

Patricia Evangelista hat der Demokratie beim Sterben zugesehen – auf den Philippinen, dem Gastland der Frankfurter Buchmesse

Frédéric Valin
Präsident Dutertes Parole lautete »Vergesst Gesetze und Menschenrechte!« Mordopfer im September 2016 in Las Piñas (Manila)
Präsident Dutertes Parole lautete »Vergesst Gesetze und Menschenrechte!« Mordopfer im September 2016 in Las Piñas (Manila)

Rodrigo Duterte wurde 2016 Präsident der Philippinen. Bis dahin war er Bürgermeister der Millionenstadt Davao gewesen. Er versprach, innerhalb von sechs Monaten mit Korruption und Drogenmissbrauch im Land aufzuräumen. Als seine Amtszeit sechs Jahre später endete, waren nach offiziellen Angaben 6252 Menschen durch Todesschwadrone und Polizei ermordet worden. Inoffizielle Zählungen von Menschenrechtsorganisationen gehen von bis zu 30 000 Toten aus. Die Geschichte dieser Morde erzählt Patricia Evangelista in ihrem Buch »Some People need Killing«.

Sie ist Trauma-Reporterin. Tagsüber sitzt sie im Café, raucht und arbeitet an Texten. Geschieht ein Mord – meist nachts –, fährt sie zum Tatort, dokumentiert das Geschehen, spricht mit Hinterbliebenen und Nachbar*innen und fährt wieder, um auf den nächsten Mord zu warten. »Ich warte nie sehr lange«, schreibt sie.

Ihr Schreiben ist ein Handwerk: Es muss genau sein, alle Fakten müssen stimmen und alle Wörter sitzen. Aber es gibt Wörter, die stimmen nicht: »salvatieren« zum Beispiel, das müsste einmal »erlösen«. Jetzt heißt es: von Duterte-Anhängern ermordet werden. Die Sprache insgesamt ist erodiert unter der autokratischen Macht Dutertes, die sich für die Medien eine Clownsnase aufgesetzt hat. Das ist wohl der Grund, dass es länger dauere, einen Satz zu schreiben, als einen Menschen zu töten, wie Evangelista meint.

Auch über ihren eigenen Namen denkt sie nach: Evangelista, das ist die »Überbringerin der frohen Botschaft«. 1985 kam sie zur Welt, im Jahr darauf stürzte das philippinische Volk den Diktator Ferdinand Marcos. Dann lernte sie sprechen. Man kann sagen: Die philippinische Demokratie ist ungefähr so alt wie Evangelista. Nun, schreibt sie, sei sie da, um der Demokratie bei ihrem Sterben zuzusehen.

Die Toten in diesem Krieg haben oft mit Drogen zu tun. Es sind Kleindealer*innen, Gelegenheitskonsument*innen, aber auch Passant*innen, die ins Kreuzfeuer gerieten. Sie stammen oft aus den armen Gegenden des Landes, aus den Slums und den engen Vororten. Die Opfer sind auch die Kinder, Eltern, Partner*innen, vor deren Augen ihre Lieben entführt und ermordet wurden. Sie sind doppelte Opfer: nicht nur durch ihren Verlust, auch durch die Unmöglichkeit zu trauern. Denn Rodrigo Duterte und seine Anhänger haben ein ganzes Lexikon der Entmenschlichung zusammengestellt, um Drogenkonsument*innen zu markieren: »Zombies« sollen sie sein, »Ungeziefer«, »Dreck«, »Abschaum«, »Müll«, und so weiter, alles nur keine Menschen. Denn um »Müll« kann man nicht trauern. Ihre Angehörigen bleiben zurück, ohne Worte.

Evangelista zeigt, was passiert, wenn der Rechtsruck einen ganzen Staat erfasst.

Es ist nicht so, dass Patricia Evangelista ihnen Worte leiht: sie zum Sprechen bringt. Ihre knappen, genauen Sätze und die kalte, klare Sprache (übersetzt von Zoë Beck) ist ganz dem Faktischen verpflichtet. Ihr Kollege Raffy erzählt ihr einmal, dass er während einer Nachtschicht zu einem Tatort gerufen wurde, dort das übliche Bild: »Die Leiche lag zusammengerollt in Embryohaltung in einem weißen Reissack. Die Handgelenke und Knie des toten Mannes waren mit gelber Nylonschnur gefesselt. Sein Gesicht war mit Paketband umwickelt. Ein Pappschild lag mit im Sack, darauf stand, der Mann sei ein Süchtiger.« Alle machten ihren Job, die Reporter machten Fotos, schauten nach Einschußlöchern, dokumentierten; bis eine Frau hinzukam, »mittleren Alters, das Haar hastig zusammengebunden. Ein Handtuch hing über ihrer Schulter.« Es war nicht klar ist, ob sie den Toten überhaupt kannte, aber sie wimmerte, weinte und schrie, ob denn hier alle kein Gewissen hätten, kein Herz. »Sie verhielt sich wie ein Mensch. Sie war die Einzige in jener Nacht, die sich normal verhielt«, erinnert sich Raffy.

Denn das Trauma hat sich längst in die Trauma-Reporter*innen eingeschrieben: In »Some People need Killing« tauchen die Opfer tatsächlich nur bruchstückhaft auf. Zwar haben sie zumeist Namen, aber nur ganz selten zeichnet Evangelista einen Lebensweg nach. Ihr Versuch, den Toten ihre Würde wiederzugeben, scheitert schon an der Masse an Morden, die mit Dutertes Wohlwollen verübt werden. In der Nacht, als ihr klar wird, dass diese Demokratie gerade stirbt, sind es 32 Tötungen in einer einzigen Provinz.

Patricia Evangelista versucht in ihrem Buch keine politische Analyse, auch wenn es hin und wieder Ansätze gibt, diese Gewalt herzuleiten und zu erklären. Im Großen und Ganzen aber ist es ein Buch, dass sie ihrer Fassungslosigkeit abgerungen hat. Auch der Fassungslosigkeit über die Dreistigkeit, mit der die Regierung lügt, sowie über die Kontingenz dieser Gewaltexzesse.

Im weltweiten Vergleich haben die Philippinen kein außergewöhnliches Drogenproblem. Duterte selbst allerdings hat eines: Seit Jahren nimmt er Fentanyl[1]. Das ist kein Geheimnis, er spricht darüber in seinen Reden. Er fühle sich dann »auf Wolke neun«.

Evangelista klammert sich angesichts all dieses Irrsinns an die Fakten: Sie sagt, was war und was ist. Es sind zwei Sorten Organisationen, die tausendfach Morde begehen: einerseits die Polizei, der Duterte vollständige Straffreiheit garantiert hat, andererseits selbstorganisierte Gruppen, die – teils von Polizeibeamten bezahlt, teils aus reiner Überzeugung – Jagd auf Menschen machen, die mutmaßlich einmal Drogen genommen haben oder noch immer nehmen. Getragen werden sie von jenem erheblichen Teil der Bevölkerung, der das Schicksal der Opfer vollkommen egal ist. Sie wollen an Dutertes Versprechen von einem sauberen, sicheren Land glauben.

2025 wurde Duterte 2025 verhaftet und nach Den Haag geschafft, dort soll er sich vor dem Internationalen Gerichtshof für seine Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag verantworten. Trotzdem [2]wählten ihn die Bürger*innen von Davao in seiner Abwesenheit wieder zum Bürgermeister.

Das internationale Echo auf Evangelistas Buch war überwältigend: »Ein journalistisches Meisterwerk«, schrieb der »New Yorker«. Deutschlandfunk Kultur nannte es »eins der wichtigsten Bücher, die wir zurzeit lesen können«. Die Philippinen sind Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse. Evangelista zeigt, was passiert, wenn der Rechtsruck einen ganzen Staat erfasst. Das Muster wiederholt sich, sei es bei Bolsonaro, Trump oder eben Duterte. Bis es nur noch eine einzige Frau gibt, Handtuch auf der Schulter, hastig gebundenes Haar, die sich als Mensch verhält.

Patricia Evangelista: Some People need Killing. Eine Geschichte der Morde in meinem Land. A.d.philip. Engl. v. Zoë Beck, CulturBooks, 368 S., geb., 28 €

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1183178.drogen-wir-brauchen-mehr-konsumkompetenz.html?sstr=fentanyl
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1191204.suedostasien-wahlen-in-den-philippinen-im-wuergegriff-der-dynastien.html?sstr=duterte