Das letzte Kapitel der Lehman-Pleite wurde erst kürzlich geschrieben. In Großbritannien wird nach 17 Jahren das Insolvenzverfahren der dortigen Tochter der US-Investmentbank abgeschlossen. Die Gläubiger erhalten aus der Insolvenzmasse umgerechnet immerhin gut 32 Milliarden Euro, auch dank hoher Zinsen. Am 15. September 2008 läutete der Bankrott von Lehman Brothers den dramatischen Höhepunkt der Finanzkrise ein. Mit umgerechnet etwa 500 Milliarden Euro war der Zusammenbruch die größte Insolvenz in der Geschichte der Wall Street.[1] Und er war sichtbarer Ausdruck einer der schwersten Finanz- und Wirtschaftskrisen der jüngeren Zeit, deren Nachwirkungen bis heute spürbar sind.
Etwa auf der Jahrestagung des Internationalen Währungsfonds (IWF), die während dieser Woche in Washington stattfindet. Die Weltwirtschaft entwickelt sich zwar besser als befürchtet – aber auch nicht gut genug, um Finanzakteure beruhigt schlafen zu lassen. Bislang haben die Märkte »insgesamt akuten Spannungen standgehalten«, beruhigte IWF-Chefin Kristalina Georgieva in ihrer traditionellen Eröffnungsrede. Dass die Entwicklung besser ausfiel als noch im April befürchtet, liege unter anderem an den finanziellen Rahmenbedingungen, welche die Wirtschaftstätigkeit stützten. Georgieva führte die Robustheit vieler Länder darauf zurück, dass Zentralbanken mit ihrer Geldpolitik glaubwürdiger geworden seien. Auch seien die lokalen Währungsmärkte »tiefer« und damit widerstandsfähiger geworden, und die Fiskalpolitiker orientierten sich in vielen Ländern stärker an Regeln, um die Inflation einzudämmen. Speziell Schwellenländer hätten bewiesen, dass sie für globale Erschütterungen besser gewappnet seien als früher.
Doch »alles kann schnell umschlagen«, nahm die bulgarische IWF-Chefin die Botschaft des Finanzstabilitätsberichts vorweg, der am späten Dienstag veröffentlicht wurde. Und der steckt voller Warnhinweise: Nicht Kredite oder Aktienkäufe dominieren demnach den Weltfinanzmarkt, sondern: »Der Devisenmarkt hat sich zum weltweit größten und liquidesten Finanzmarkt entwickelt.«[2] Dies sei vor allem auf den verstärkten Einsatz von Derivaten – Finanzinstrumenten, die häufig zur Spekulation eingesetzt werden – und die steigende Beteiligung von Schattenbanken zurückzuführen, was gefährlich werden könnte. Schwankungsanfällige Kryptowährungen und technikaffine Fin-Techs, aggressive Hedgefonds, gewöhnliche Geldmarktfonds und vielerlei andere Arten von Nicht-Banken sammeln weltweit Billionenwerte in Dollar, Euro oder Franken ein. Weitgehend unbehelligt von amtlichen Regeln und öffentlicher Aufsicht »investieren« diese Schattenbanken mehr oder weniger riskant in Finanzmarktprodukte aller Art. [3]Dieses Wachstum habe zu größerer Komplexität geführt, »was den Markt anfälliger für Stressphasen macht«, warnt der Währungsfonds.
Im Falle einer Krise könnten Schattenbanken wie ein »Schockverstärker« wirken, meinen Beobchter. Eine solche Krise könnte sich im Tech-Bereich anbahnen: Konzerne investieren derzeit Hunderte Milliarden Dollar in Chips, Rechenleistung, Datenzentren und andere Infrastruktur, um mit der Künstlichen Intelligenz (KI) üppige Produktivitätsgewinne und Profite zu erzielen. Entsprechend gehen die Börsenkurse von Alphabet (Google), dem Halbleiterhersteller Nvidia oder dem Softwareanbieter Palantir durch die Decke. Es liegt nahe, dass irgendwann eine Korrektur erfolgen muss, welche die Aktienbewertungen insgesamt wieder realistischer macht. Geschieht dies schockartig durch einen Börsenkrach, könnte dies in den aktienbegeisterten USA den Konsum erheblich dämpfen und sich durch das globale Finanzsystem fortpflanzen, warnt der IWF.
Droht also eine neuerliche Finanzkrise wie zur Zeit der Lehman-Pleite? Eher nicht. Zentralbanken und Schwellenländer hätten gelernt, so der IWF. Und ein Platzen der KI-Blase an den Börsen würde die KI-Konzerne weniger hart treffen als ihre Aktionäre, da sie intakte Geschäftsmodelle und große finanzielle Reserven besäßen.
Dennoch herrscht eine gewisse Unruhe unter den Finanzakteuren. Erst vergangene Woche hatte US-Präsident Donald Trump mit seinen Attacken auf China wieder einmal für Hektik gesorgt. Schon seit längerem steigt der Goldpreis, sinkt der Dollarkurs und wachsen Schattenbanken.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1194764.weltfinanzmarkt-alles-kann-schnell-umschlagen.html