Rund 1,6 Millionen Kinder und Jugendliche leben nach Schätzungen in den von Russland besetzten Gebieten der Ukraine. Für sie besteht die Gefahr, aus der Ostukraine nach Russland verschleppt zu werden. Wie viele dieses Schicksal ereilt hat, ist schwer zu ermitteln. Es gibt Annahmen, die je nach Quelle von 20 000 bis zu 31 000 Kindern ausgehen. In Russland sollen sie umerzogen werden – ihre ukrainische Identität in Kinderheimen, Adoptiv- und Pflegefamilien genommen werden. Mit Unterstützung von SOS-Kinderdörfer weltweit hilft das Ukrainische Kinderrechtsnetzwerk (UCRN) deshalb Kindern und Jugendlichen bei der Flucht aus Russland und den besetzten Gebieten in die nicht besetzte Ukraine.
19 Geflohene haben jetzt auf Einladung Bürgerinitiative »Ukrainehilfe Birstein und Brachttal e.V.« in Hessen sieben Tage Urlaub vom Krieg machen können. Eine Woche lang haben sie unter anderem Ausflüge ins Schwimmbad, einen Freizeitpark und in den Zoo gemacht, sieben Nächte ohne Luftalarm erlebt, sie haben mit ukrainischen Sozialpädagoginnen über ihre Sorgen, ihre Trauer und ihre Hoffnungen gesprochen. Hier erzählen drei vor den russischen Besatzern geflohene Jugendliche vom Krieg, ihrer Odyssee – und den Auswirkungen gezielter Einflussnahme.
Marija*, 16: »Vier Tage nachdem meine Mama gestorben ist, bin ich alleine geflohen. Ich hatte Angst, dass die Russen mich sonst geschnappt und in Russland in eine Pflegefamilie oder ein Kinderheim gesteckt hätten, um eine Russin aus mir zu machen.
Ich wurde in der Ostukraine geboren. Unser Dorf wurde gleich in den ersten Kriegstagen von den Russen eingenommen. Sofort wurde alles schlechter, auch die medizinische Versorgung. Meine Mama hatte Krebs. Ich weiß nicht, ob sie länger gelebt hätte, wenn der Krieg nicht gewesen wäre. So ist sie am 7. Oktober 2024 gestorben, am 10. war die Beerdigung, am 11. bin ich abgehauen.
Ich glaube, mein Stiefvater ist prorussisch, zumindest hat er nichts gegen die Russen, hätte mich vielleicht verraten. Er durfte also nichts ahnen. Darum bin ich am Tag nach der Beerdigung ganz normal zur Schule gegangen. Damit niemand Verdacht schöpft, hatte ich nur meine Schulsachen dabei. Noch nicht mal die Tasse, die meine Mama mir geschenkt hat und die Tasse, die ich ihr geschenkt habe, konnte ich einpacken. Auch Busja – meinen Hund – musste ich zurücklassen. Nach der Schule habe ich mich auf den Weg gemacht.
Ich wusste, dass meine Flucht über Russland und Belarus gefährlich war, aber nachdem meine Mama gestorben war, weiterhin unter russischer Besatzung zu leben, kam für mich nicht infrage. Ich habe von einem Mädchen gehört, das von russischen Soldaten in den Wald verschleppt, vergewaltigt und erschossen wurde. Sie war zwölf oder 13. Auch eine Freundin von mir wollten sie vergewaltigen. Als sie sich wehrte, haben sie sie geschlagen. Sie hat danach lange gehumpelt. Mir haben russische Soldaten auf der Straße hinterhergebrüllt: «Wie alt bist Du?» Als ich sagte, dass ich 15 bin, haben sie gelacht und gesagt: «In drei Jahren bist Du so weit.» Es ist so ekelhaft!
Mein leiblicher Vater ist Soldat. Er hat seit 2014 in der Ostukraine gegen die Separatisten und die Russen gekämpft. Weil meine Mama tot ist und ich niemand anderen habe, ist er jetzt vom Wehrdienst befreit. Ich wohne mit ihm in Saporischschja. Bis zum größten Atomkraftwerk der Ukraine sind es von dort Luftlinie nur 50 Kilometer.[1] Dort wird immer wieder gekämpft. Das macht mir Angst. In der Schule gehen wir immer gleich in den Keller, damit der Unterricht bei Luftalarm[2] nicht ständig unterbrochen werden muss. Wenn meine Warn-App zu Hause klingelt, gehe ich nicht in den Keller. Ich hätte Angst, dort verschüttet zu werden. Ich gehe bei Alarm lieber aufs Klo. Unsere Toilette hat kein Fenster, dort kann man zumindest nicht von Scherben getroffen werden.
Ich schlafe oft schlecht und leide unter Panikattacken[3]. Das ukrainische Kinderrechtsnetzwerk[4] hat deshalb dafür gesorgt, dass ich einmal pro Woche zur Psychotherapie gehen kann. Es tut mir gut, mit jemandem über meine Angst und meine Trauer zu sprechen. Ich habe dort gelernt, wie ich mit Atemtechnik etwas gegen meine Panikattacken machen kann. Außerdem hat mein Papa mir einen neuen Hund gekauft. Er heißt Richard. Wenn es mir schlecht geht, kuschele ich mit ihm. Das hilft.«
Serhij*, 14: »Ich kenne nur Krieg. Ich war drei Jahre alt, als die Separatisten mit den Russen im Donbass den Krieg anfingen. Mein Papa war damals Bergmann. Ihn hat der Krieg so fertig gemacht, dass er vor Angst, Wut und Trauer einen Schlaganfall bekommen hat und gestorben ist. Seitdem hat meine Mama sich alleine um mich und meinen großen Bruder gekümmert. Sie hasste die Separatisten und die Russen. Darum hat sie Menschen, die die Volksrepublik Donezk verlassen wollten, geholfen, in die freie Ukraine zu fliehen.
Vor vier Jahren ist sie deshalb festgenommen worden und kam in das berüchtigte «Gefängnis Nummer 5» in Donezk. Die Wärter haben sie dort mit Elektroschocks an den Genitalien gefoltert und ihr die Zähne ausgeschlagen. Aber erst als man ihr gedroht hat, dass ich und mein älterer Bruder nach Russland deportiert würden, hat sie gestanden und ist zu einer Haftstrafe verurteilt worden. Mein Bruder und ich haben in dieser Zeit bei einer Freundin meiner Mutter in der Nähe von Donezk gewohnt. Kurz bevor er wahrscheinlich eingezogen worden wäre, ist mein Bruder nach Russland geflohen und hat sich dort versteckt, damit er nicht in der russischen Armee gegen die Ukraine kämpfen musste.
Meine Mutter ist bei einem Gefangenenaustausch zwischen Russland und der Ukraine freigekommen. Sie wollte so schnell wie möglich zu mir, aber sie wäre sofort wieder verhaftet worden, wenn sie in die von Russland besetzten Gebiete eingereist wäre. Also mussten wir zu ihr nach Kiew. Aber ich hatte keine Ahnung, wie das gehen sollte. Darum hat meine Mutter die ukrainische Regierung kontaktiert. Spezialisten der Regierung haben dann eine Fluchtroute für mich ausgearbeitet. Ich bin zunächst nach Russland gereist, von dort mit meinem Bruder über Lettland, Litauen und Polen nach Kiew zu unserer Mutter.
Wir waren gerade angekommen, als Russland auch Kiew angriff. Ich war total froh, endlich wieder bei meiner Mutter zu sein, aber ich hatte auch tierische Angst vor den Raketen. Mittlerweile habe ich mich an die Drohnenangriffe gewöhnt. In den Luftschutzkeller gehe ich nur noch, wenn meine Luftalarm-App anzeigt, dass ballistische Raketen im Anflug sind. Es ist viel schwieriger, sie abzufangen, und sie sind viel gefährlicher.
Vor zwei Monaten habe ich mir ein Tattoo auf die Hand stechen lassen, einen wütenden Smiley. Mama hat auch viele Tattoos und hat es mir erlaubt. Sie sagt, der wütende Smiley passt zu mir, weil ich immer so wütend bin. Ich bin wütend, was die Russen mit meiner Mutter, meinem Papa, mir und so vielen anderen Menschen in der Ukraine gemacht haben. Ich möchte meine Mama und all die anderen rächen! Sobald ich alt genug bin, will ich Soldat werden. Ich weiß, dass ich dabei sterben kann. Aber das ist mir egal. Ich will mithelfen, die Ukraine zu befreien.«
Kateryna*, 16: »Ich habe in diesem Krieg viele Freunde verloren, aber nicht durch Raketen und Drohnen, sondern durch russische Propaganda. Ich bin in Berdjansk geboren. Die Stadt ist wenige Tage nach Ausbruch des Krieges kampflos von russischen Truppen eingenommen worden. Aber die zwei Wachmänner der Fabrik, in der meine Mama gearbeitet hat, wurden erschossen. Meine Mama kannte einen der Männer gut. Vielleicht haben die Russen die Wachleute wegen ihrer Uniformen für Soldaten gehalten und sie deshalb umgebracht. Ansonsten wurde wenig gekämpft. Und trotzdem war alles schrecklich.
In meiner Schule wurden sofort Bilder von Putin, Stalin und Lenin aufgehängt. Wir sollten ab sofort nur noch Russisch sprechen und die russische Nationalhymne singen. Ukrainische Bücher wurden auf dem Schulhof verbrannt. Ich bin bis dahin immer gerne zur Schule gegangen, aber nach dem russischen Überfall bin ich fast ein Jahr lang kaum zur Schule gegangen. Viele der Lehrerinnen und Lehrer, die ich mochte, sind geflohen. Die, die ich nicht mochte, haben mit den Russen kollaboriert. Unsere Geometrie-Lehrerin hat gesagt: «Ihr müsst den Russen dankbar sein, dass sie uns von diesem Nazi-Regime in der Westukraine befreit haben. Selenskyj und Co. sind schuld, dass es überhaupt zum Krieg gekommen ist.» Diesen Blödsinn wollte ich mir einfach nicht anhören.
Ich habe ein Jahr kaum das Haus verlassen. Es hat mich total fertig gemacht, dass ich nicht wusste, wem ich noch vertrauen kann und wer mit den Russen zusammenarbeitet und ihnen verraten könnte, dass ich niemals russisch werden würde. Ich habe nur noch Hass gespürt. Hass auf die Russen, Hass auf das ganze Leben. Damals habe ich darüber nachgedacht, mich umzubringen.
Bleiben war keine Option. Darum bin ich vor einem Jahr mit meiner Mama und meinem kleinen Bruder über Russland und Belarus in den nicht besetzten Teil der Ukraine geflohen. Einen ersten Fluchtversuch mussten wir abbrechen, weil mein kleiner Bruder eine Panikattacke bekommen hatte.
Wenn ich erwachsen bin, möchte ich Krankenschwester werden und verwundete Soldaten versorgen, die unser Land und unsere Freiheit verteidigen. Wenn es sein muss, gehe ich dafür auch direkt an die Front. Wir müssen die besetzten Gebiete zurückerobern, ansonsten wären all die Soldaten und Zivilisten umsonst gestorben. Ich möchte irgendwann wieder im befreiten Berdjansk leben. Ich vermisse das Meer.
Ich und alle ukrainischen Kinder und Jugendlichen sind durch den Krieg viel zu schnell erwachsen geworden. Trotzdem war es total schön, eine Woche Urlaub vom Krieg zu haben. Wir haben in Deutschland einen Ausflug in einen Freizeitpark gemacht. Dort ist mir aufgefallen: Zuhause habe ich keine Angst mehr vor Drohnen, aber hier habe ich Angst vor einem Kettenkarussell. Das hat der Krieg mit mir gemacht.«
*Die Namen wurden auf Wunsch der Jugendlichen geändert.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1194783.jugendliche-ukraine-urlaub-vom-krieg.html