Innerhalb von Hongkong[1] hat die Halbinsel Kowloon die höchste Bevölkerungsdichte. Die Hochhäuser stehen so dicht beieinander, dass das Sonnenlicht kaum auf die Straße fällt. In dieser Architektur gehen auch die niedrigen Tribünen des Mongkok-Stadions fast unter, bei Fußballspielen vermischen sich die Fangesänge mit Polizeisirenen von der Straße. »Es ist ein kleines Stadion«, sagt Jian. »Aber mitten in der Stadt, mitten im Leben. Hier fühlen wir uns mit Hongkong verbunden.« Der Hongkonger Student dokumentiert Fußball und Fankultur[2] in sozialen Medien. Seinen richtigen Namen möchte er nicht nennen. In Zeiten, in denen die Repression in Hongkong zunimmt, kann ihm jedes Wort als politisch und aktivistisch ausgelegt werden, die Kommunistische Partei Chinas möchte auch die letzten Stimmen der Zivilgesellschaft zum Schweigen bringen.
Jian ist Anfang 20, wirkt bedächtig und studiert an einer renommierten Universität. Er sagt, dass es in Hongkong[3] kaum noch Orte für einen kritischen Austausch gebe. Unabhängige Medien wurden geschlossen, Gewerkschaften und Studentenvereinigungen haben sich aufgelöst. »Der Fußball bietet uns noch ein bisschen Freiraum, da können wir Druck ablassen.«
Jian möchte die Sache nicht größer machen, als sie ist. Er sei kein Freiheitskämpfer. Auch im Stadion habe die Anwesenheit von Sicherheitskräften massiv zugenommen. Offene Proteste gegen Peking[4] seien auf den Tribünen inzwischen undenkbar, berichtet er: »Und trotzdem können wir zeigen, dass wir als Hongkonger eine eigene Identität haben.« Da sind zum Beispiel die Spiele im Mongkok-Stadion zwischen der Auswahl Hongkongs und dem Team aus Guangdong, der südchinesischen Nachbarprovinz. Fans wie Jian singen dann mit Inbrunst Lieder wie »Glory to Hongkong« und pfeifen jeden chinesischen Spieler aus. »Da sind sicherlich auch sympathische Jungs dabei«, meint er. »Aber wir übertragen unsere Abneigung gegen Peking auf diese Spieler. Außerhalb des Stadions haben wir solche Möglichkeiten nicht mehr.«
Seit 2020 gilt in Hongkong das »Nationale Sicherheitsgesetz«[5]. Darin formuliert der Volkskongress in Peking[6] Maßnahmen gegen vermeintliche Straftaten wie »Sezession«, »Subversion« und die »Absprache mit ausländischen Mächten«. Zu diesen Maßnahmen gehören die Überwachung von »Verdächtigen«, die Durchsuchung von Räumlichkeiten und die Beschlagnahmung von Vermögen. Laut Menschenrechtsorganisationen sind in Hongkong mehr als 1000 Menschen aus politischen Gründen in Haft. Mehr als 300 000 haben die Stadt in den vergangenen sechs Jahren verlassen.
Die einst liberale Sonderverwaltungszone[7] ist nicht wiederzuerkennen. Kritische Kunstwerke und Gedenktafeln, die an das Tiananmen-Massaker[8] in Peking 1989 erinnern, wurden entfernt. Bürger können nun »verdächtige« Nachbarn bei einer Hotline melden. In Schulen wirbt ein neues Unterrichtsfach für »gute und patriotische Staatsbürger«, erzählt der schwedische Journalist Johan Nylander, der seit einem Jahrzehnt aus Hongkong berichtet: »Grundsätzlich ist das Vertrauen in die Institutionen gesunken. Etliche Unternehmen, Banken und Kanzleien haben ihre Geschäftsstellen aus Hongkong nach Singapur verlegt.«
Mit dem »Nationalen Sicherheitsgesetz« reagierte Peking auf die größten Proteste in der Geschichte von Hongkong[9]. Im Sommer 2019 ging an mehreren Tagen mehr als eine Million Menschen auf die Straßen, rund ein Fünftel der Bevölkerung. Sie demonstrierten gegen ein Gesetz, das die Auslieferung von Häftlingen an die Volksrepublik ermöglichen sollte. Plötzlich beschäftigten sich viele junge Hongkonger zum ersten Mal mit Politik, auch im Fußball. Die Heimspiele der Nationalmannschaft Hongkongs, die lange wenig beachtet wurden, waren 2019 ausverkauft. Im Mongkok-Stadion buhten Tausende Zuschauer die chinesische Hymne aus. Etliche Fans blieben sitzen, drehten sich mit dem Rücken zum Spielfeld. »In diesen schwierigen Zeiten waren Leute aus allen Schichten auf der Suche nach einem Gemeinschaftsgefühl«, sagt der Soziologe Chung Wing Lee mit Blick auf sein Forschungsgebiet Fußball.
Die Fernsehbilder von Zuschauern, die wütend die chinesische Hymne ausbuhen, wurden auch in Europa und Nordamerika diskutiert. Die Volksrepublik[10] wollte diese Demütigung nicht dulden und verabschiedete die »Nationalhymnen-Verordnung«. Seither wurden immer wieder Fans wegen »Beleidigungen gegen die Hymne« festgesetzt und zu Geldstrafen verurteilt.
Doch es gibt subtilen Protest. Zum Beispiel bei einem Gerichtsprozess[11] gegen 47 Angeklagte. Die Aktivisten, Sozialarbeiter und ehemaligen Abgeordneten hatten sich für freie Wahlen eingesetzt. Peking sah darin eine »Verschwörung«. Die Gruppe ist als »Hongkong 47« bekannt. Im Mongkok-Stadion erhoben sich Fußballfans während einer Partie in der 47. Spielminute und applaudierten.
Aufgrund derartiger Aktionen wird die Kontrolle im Fußball ausgeweitet, ganz offensichtlich auch im Ausland. Im Januar 2024 nahm die Nationalmannschaft Hongkongs an der Asienmeisterschaft in Katar teil[12]. Es war ihre erste Qualifikation für das Turnier seit 56 Jahren. Für die Vorbereitung spielten Hongkongs Fußballer in einem Testspiel gegen China. Zuschauer und Medien waren im Stadion von Abu Dhabi nicht zugelassen, erst durch die Mitteilung eines Spielers in den sozialen Medien erfuhr die Welt, dass Hongkong 2:1 gewonnen hatte. »Bilder gibt es davon nicht, aber unsere Freude war trotzdem groß«, erinnert sich Jian und meint: »Wenn das Spiel übertragen worden wäre, hätte das in Hongkong eine Euphorie ausgelöst.« Er begleitet das Nationalteam hin und wieder auch zu Spielen in andere asiatische Länder. Er sagt, dass er sich dort im Stadion häufig von Sicherheitskräften und anderen Zuschauern beobachtet fühle, und betont, dass er auch in Katar, Indien oder Usbekistan keine kritischen Gesänge gegen China anstimmen würde.
Nach China wollen Jian und seine Freunde vorerst nicht reisen. Aber sie lehnen auch nicht alles und jeden von dort ab. Da ist zum Beispiel Huang Yang, aufgewachsen in Shanghai. Der Spieler zog 2008 nach Hongkong, lernte schnell Kantonesisch, die vorherrschende Sprache, und entschied sich für eine Karriere im Nationalteam Hongkongs. »Er ist sehr engagiert und höflich, und er interessiert sich für die Anliegen der Fans«, berichtet Jian und lächelt. »Die Kommunistische Partei könnte sich an ihm ein Beispiel nehmen.«