»Der Nikolaus war noch nie der Osterhase[1].« Mit dieser feiertäglichen Formel erklärte Uli Hoeneß einst, dass ein Fußballklub, der im Herbst an der Tabellenspitze steht, sich noch lange nicht sicher sein kann, dies auch am Saisonende zu tun. 2006 war das, als Hoeneß’ Bayern nach dem 10. Spieltag drei Punkte Rückstand auf Tabellenführer Werder Bremen hatten (tatsächlich wurde Bremen am Ende der Saison 2006/07 nicht Meister, Bayern München allerdings auch nicht, sondern der VfB Stuttgart).
Sogar Bayerns ewig selbstbewusstem Ehrenpräsidenten wäre es deswegen wohl etwas zu früh, beim anstehenden Duell zwischen dem Tabellenführer aus München und der zweitplatzierten Borussia aus Dortmund von einem Finale um die Deutsche Meisterschaft zu sprechen. Und trotzdem deutet vieles auf ein Endspiel am siebten Spieltag hin – so gut sind die Münchner in die Saison 2025/26[2] gestartet. Eine bessere Bilanz als Bayerns sechs Siege mit einem Torverhältnis von 25:3 gab es nach sechs Spieltagen noch nie in der Bundesliga-Historie. Mit der maximalen Ausbeute von 18 Punkten hat der FCB bereits vier Punkte Vorsprung auf den BVB.
Die Münchner scheinen die offensive Spielidee von Trainer Vincent Kompany[3] in dessen zweitem Jahr noch besser verinnerlicht zu haben. Weder der Abgang von Klubikone Thomas Müller noch das Fehlen der langzeitverletzten Jamal Musiala[4] und Alphonso Davies haben sich bisher negativ bemerkbar gemacht. Im Gegenteil: Ohne Müller und Musiala im Angriff scheint vor allem Starstürmer Harry Kane noch mehr aus sich herauszuholen. Der 32-jährige Engländer glänzte bislang nicht nur mit elf Bundesliga-Toren, sondern auch als umtriebiger Spielmacher, er spricht offen über seine Ballon-d’Or-Ambitionen und eine mögliche Vertragsverlängerung.
Weil auch Königstransfer Luis Díaz mit fünf Toren und vier Vorlagen in sechs Spielen die Kritik an seiner 70-Millionen-Euro-Ablöse schnell hat verstummen lassen und selbst fast schon Aussortierte wie Serge Gnabry und Sacha Boey aktuell Leistung zeigen, könnte die Stimmung beim Rekordmeister kaum besser sein.
Entsprechend selbstbewusst klang Bayerns Joshua Kimmich vor dem Duell mit dem BVB[5] im Rahmen eines PR-Termins am Mittwoch: »Wir haben schon die Chance, ein Statement zu setzen und davonzuziehen. Das ist auch ganz klar das Ziel.« Bei einem Heimsieg am Samstagabend hätte man bereits sieben Punkte Vorsprung auf Dortmund. Zwar könnte RB Leipzig mit einem Erfolg gegen den HSV auch bei einem Bayern-Sieg bis auf fünf Punkte am FCB dranbleiben. Allerdings durfte der Brauseklub[6] am ersten Spieltag beim 0:6 in der Allianz Arena bereits erleben, wie groß die Distanz zu den Münchnern wirklich ist.
Gleiches gilt auch für die vor der Saison als Geheimfavorit gehandelten Frankfurter, die vor der zurückliegenden Länderspielpause gegen die Bayern schon nach 15 Sekunden[7] auf die Verliererstraße abbogen. Weil auch Bayer Leverkusen seine Meistermannschaft von 2024 inzwischen fast komplett auseinandergebaut hat und nach dem Missverständnis Erik ten Hag[8] unter Neutrainer Kasper Hjulmand erst langsam in die Spur findet, bleiben schon früh in der Saison eigentlich nur die Dortmunder als Bayern-Jäger übrig.
Auch die Borussia ist nach sechs Spielen noch ungeschlagen. Dabei kassierte man seit dem 3:3 am ersten Spieltag bei St. Pauli in der Liga nur noch einen Gegentreffer. »Ich gehe schon davon aus, dass wir mehr den Ball haben werden, aber Dortmund kann damit, glaube ich, gut umgehen. Weil sie einen großen Fokus auf die Defensive und sehr große Qualitäten im Umschaltspiel haben. Da müssen wir aufpassen«, sieht Nationalmannschaftskapitän Kimmich[9] eine harte Aufgabe auf seine Bayern zukommen.
Unter Niko Kovač, der im Februar den Trainerposten von BVB-Vereinslegende Nuri Şahin[10] übernahm und für viele zunächst nur als Notlösung galt, spielt Dortmund pragmatischen und wieder erfolgreichen Fußball. Der gebürtige Berliner setzt dafür vor allem auf Kampfgeist, defensive Kompaktheit[11] und ein direktes Spiel nach vorne. Diese Vorgaben will der ehemalige Bayern-Trainer auch an seiner alten Wirkungsstätte sehen. »Wenn man in München zu ängstlich agiert, dann wird es schwierig. Das haben die vergangenen Spiele gezeigt, in denen die Gegner versucht haben, nur zu verteidigen«, warnte der 54-Jährige auf der Spieltags-Pressekonferenz am Donnerstag und forderte von seinem Team maximalen Zusammenhalt: »Wir müssen eine Faust sein, denn die tut mehr weh als eine Schelle.«
In seiner aktuellen Verfassung bringt der BVB tatsächlich vieles mit, um die Bayern ins Wanken zu bringen: Gegen einen Topstürmer wie Dortmunds Serhou Guirassy musste die nicht immer ganz sattelfeste Münchner Abwehr in dieser Saison noch nicht spielen. Und die Dortmunder Defensive dürfte die bislang härteste Aufgabe für den Angriff des Rekordmeisters sein. Auch das von Joshua Kimmich angesprochene Dortmunder Umschaltspiel könnte zum Problem für die Bayern werden, insbesondere wenn BVB-Verteidiger Nico Schlotterbeck es schafft, mit seinen gefürchteten 60-Meter-Diagonalpässen den pfeilschnellen Karim Adeyemi ins Eins-gegen-Eins mit den Münchner Verteidigern zu schicken.
Wenn aber auch die Dortmunder Stärken am Samstagabend nichts gegen diesen FC Bayern ausrichten können, dann fällt es schwer, sich vorzustellen, wer den Münchnern in dieser Saison die Meisterschaft noch streitig machen soll. Dann könnte die Bundesliga nicht zum Nikolaus, sondern schon vor dem Reformationstag mehr oder weniger entschieden sein. Allen, die sich trotzdem Spannung an der Tabellenspitze wünschen, bleibt dann nur zu hoffen, dass die Hoeneß’sche Feiertagsformel immer noch Wahrheit in sich trägt – und dass auch Martin Luther kein Osterhase war.