nd-aktuell.de / 17.10.2025 / Wirtschaft und Umwelt

Ums nackte Überleben

Studie: Grundsicherung reicht nicht für ein zweites Paar Schuhe

Sarah Yolanda Koss
Definition »materieller Entbehrung« nach EU-Standards: Die Person kann es sich nicht leisten, mindestens zwei Paar Schuhe in gutem Zustand zu besitzen.
Definition »materieller Entbehrung« nach EU-Standards: Die Person kann es sich nicht leisten, mindestens zwei Paar Schuhe in gutem Zustand zu besitzen.

»Es geht ums nackte Überleben«: Den Satz liest man normalerweise in Ankündigungen spektakulärer Hollywoodfilme. Nun nutzt ihn der Paritätische Wohlfahrtsverband, um in einer neuen Studie die Konditionen im Bürgergeld zu umschreiben. Fast jede fünfte Person im Bürgergeldbezug hat demnach kein zweites Paar Schuhe. Jeder Dritte kann sich nur alle zwei Tage eine vollwertige Mahlzeit leisten. Über die Hälfte der Menschen im Bürgergeld kann kaputte Möbel nicht ersetzen. Und fast jeder Fünfte hat Zahlungsrückstände bei Miete, Strom oder Heizung.

Die Hälfte aller Menschen im Bürgergeld lebte den Berechnungen zufolge 2024 in materieller Entbehrung. Die Definition stammt aus der EU-SILC-Datenerhebung. Sie dient zum europäischen Vergleich von Daten zu Armuts- und Sozialausschlussfragen. Entbehrung ist dort ein Zustand, in dem sich Personen oder Haushalte bestimmte Güter und/oder Aktivitäten nicht leisten können, die als »normaler Lebensstandard« gelten. Zudem reichen die Leistungen im Bürgergeld dem Paritätischen zufolge nicht aus, um die Armutsgrenze zu überschreiten. Als armutsgefährdet gelten Personen, deren Nettoeinkommen unterhalb von 60 Prozent des Medianeinkommens liegt. Der Paritätische nutzt diesen Parameter synonym für Armut.[1]

»Die Grundsicherung deckt zwar das nackte Überleben, sichert aber weder soziale Teilhabe noch ein würdevolles Leben.«

Andreas Aust Paritätische Forschungsstelle

Die Studie des Paritätischen kommt zu dem Ergebnis, dass die Leistungen der Grundsicherung kein menschenwürdiges Existenzminimum garantieren. »Die Grundsicherung deckt zwar das nackte Überleben, sichert aber weder soziale Teilhabe noch ein würdevolles Leben«, schlussfolgert Andreas Aust von der Paritätischen Forschungsstelle.

Das Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum basiert auf einem Entscheid des Bundesverfassungsgerichts von 2010. Demnach muss der Staat die »materiellen Voraussetzungen« bieten, die »für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind« und diese auch an die Entwicklung der Gemeinschaft anpassen.

Sozialministerin Bärbel Bas (SPD) verkündetet diese Woche, die Bundesregierung wolle mit der neuen Grundsicherung an »die Grenze dessen gehen, was verfassungsrechtlich möglich« sei. Dabei verhandeln Union und SPD um härtere Sanktionen, Leistungsentzug und weniger Vermögensschutz[2] der Menschen im Bürgergeld. Die arbeitgebernahe Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft veröffentlichte daraufhin Mitte der Woche ein Gutachten, wonach die Koalition verfassungskonform handle und »auch noch weiter gehen könnte und sollte«.

Die Berechnungen des Paritätischen ergeben dagegen, dass Beziehende von Grundsicherungsleistungen bereits jetzt »von der Wohlstandsentwicklung abgekoppelt« wurden. Die Grundsicherung befindet sich trotz Anpassungen kaufkraftbereinigt auf dem Stand von 1995. Das liegt unter anderem daran, dass die Leistungen zwar nominell stiegen, ein großer Teil aber für die ebenfalls gestiegenen Wohn- und Energiekosten aufgewendet werden mussten. Im Durchschnitt wuchsen die Einkommen der deutschen Haushalte in den letzten 30 Jahren, nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, um 30 Prozent. Die Einkommen des obersten Zehntels liegen sogar 50 Prozent höher als im Jahr 1995.

Zwar gab es in den Jahren 2023 und 2024 deutliche Anhebungen der Regelbedarfe von über 10 Prozent. Diese wirkten jedoch »lediglich als Kompensation massiver Kaufkraftverluste durch die Inflation, nicht aber als strukturelle Verbesserung«. 2025 und 2026 folgt aufgrund der Berechnungsweise der Regelsätze im Bürgergeld keine Anpassung an die Preisentwicklung.

»Durch die gesetzlich bedingten Null-Runden wird sich die soziale Lage voraussichtlich verschlechtern«, so der Ausblick der Studie. Der Staat kommt dem Auftrag des Bundesverfassungsgerichts demnach nicht nach. Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz liegen noch einmal deutlich unter dem Bürgergeld-Niveau. Dabei hat sich Deutschland auch mit der Unterzeichnung der UN-2030-Strategie zu zahlreichen Entwicklungs- und Nachhaltigkeitszielen – wie der Bekämpfung von Armut – verpflichtet.

»Das ist beschämend für unser Land. Besonders bitter: Knapp zwei Millionen Kinder und Jugendliche wachsen in dieser Armut auf. Statt Verschärfungen brauchen wir endlich eine spürbare Erhöhung der Regelbedarfe.«

Joachim Rock Paritätischer Wohlfahrtsverband

»Das ist beschämend für unser Land. Besonders bitter: Knapp zwei Millionen Kinder und Jugendliche wachsen in dieser Armut auf. Statt Verschärfungen brauchen wir endlich eine spürbare Erhöhung der Regelbedarfe«, so Joachim Rock, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen, in einer Presseaussendung.

Das forderte diese Woche auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB).[3] Die geplanten Verschärfungen bei der Umstellung vom Bürgergeld zur neuen Grundsicherung treffen nicht nur Personen, die die Leistungen beziehen, sondern auch Arbeiter*innen, deren Verhandlungsmacht bezüglich Löhnen durch schlechtere Bedingungen in der Grundsicherung sinkt. DGB-Chefin Yasmin Fahimi drohte deshalb mit »massiven Streiks«, um der vorherrschenden »neoliberalen Marktpolitik« zu begegnen.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1184034.paritaetischer-wohlfahrtsverband-ulrich-schneider-kompromisse-sind-sache-des-parlaments.html
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1194756.sozialabbau-unter-schwarz-rot-neue-grundsicherung-schlimmer-als-das-hartz-iv-regime.html
  3. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1194659.sozialreformen-gewerkschaften-drohen-mit-beinhartem-widerstand.html