nd-aktuell.de / 19.10.2025 / Wirtschaft und Umwelt

Über fünf Jahre in U-Haft: Marathon-Prozess um Wirecard

Ex-Boss Markus Braun bescherte die Wirecard-Pleite eine rekordverdächtig lange Untersuchungshaft

Hermannus Pfeiffer
Ex-Wirecard-Chef Markus Braun erklärt sich nach wie vor im Strafprozess für unschuldig.
Ex-Wirecard-Chef Markus Braun erklärt sich nach wie vor im Strafprozess für unschuldig.

Markus Braun sitzt seit mehr als fünf Jahren in Untersuchungshaft. Zwei, drei Mal pro Verhandlungswoche wird der frühere Chef des Finanzdienstleisters Wirecard aus der Justizvollzugsanstalt Stadelheim durch einen Tunnel in den angeschlossenen Hochsicherheitsgerichtssaal geführt. Anträge auf Haftentlassung hat das Landgericht München I bisher stets abgelehnt. Es bestehe Flucht- und Verdunkelungsgefahr, und der Vollzug der Untersuchungshaft sei angesichts der Schwere des Falles verhältnismäßig, so die Richter.

Braun ist wegen gewerbsmäßigen Bandenbetrugs, Untreue, Marktmanipulation und unrichtiger Darstellung in den Bilanzen des Konzerns angeklagt.[1] Ihm droht ein Haftstrafe von mehr als zehn Jahren. Der Ex-Spitzenmanager weist alle Vorwürfe der Staatsanwaltschaft gegen sich zurück und geht von einem Freispruch aus, teilte er kürzlich in einem Interview im »Stern« mit.

Wirecard galt in den Zehnerjahren Investoren, Medien und Regierungspolitikern als »Börsenwunder«. Das Unternehmen bot Lösungen für den elektronischen Zahlungsverkehr an und managte Kreditkarten. Eine Tochtergesellschaft verfügte sogar über eine deutsche Banklizenz. An Regulierungen und Aufsicht durch öffentliche Stellen hat es also eigentlich nicht gemangelt, dennoch blieben Betrügereien über Jahre unentdeckt. Politiker sind daher teilweise entschuldigt, die in dem weltweit agierenden IT-Finanzdienstleister aus dem oberbayerischen Aschheim einen Gegenspieler zu US-amerikanischen Tech-Giganten sahen. Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) soll während einer Reise nach Peking gegenüber der chinesischen Regierung sogar für einen Markteintritt der Wirecard AG in der Volksrepublik geworben haben.

Hinter dem Konzern, der selbst in der Spitze nur etwas mehr als 5000 Beschäftigte zählte, lag bis dahin schon eine bewegte Geschichte. 1999 wurde Wire Card als innovatives Start-up gegründet – zu Zeiten, als Internet und Onlinehandel noch in den Kinderschuhen steckten. Das Unternehmen sollte den Zahlungsverkehr zwischen Käufer und Verkäufer abwickeln, wie es heutzutage Paypal und Klarna tun. Nach einer ersten Insolvenz platzierte KPMG seinen Berater Markus Braun im Unternehmen. Unter dessen Führung stieg Wirecard dann zum international tätigen Finanzdienstleister mit Platzierung im Deutschen Aktienindex auf, in dem sich sonst Größen wie Allianz, BASF und Siemens tummeln.

Wie zuletzt bei den Immobilienkonzernen Adler und René Benkos Signa stellt sich die Frage, wieso erfahrene Investoren so oft auf Firmen mit frisierten Bilanzen hereinfallen. Zumal Wirecard sein Schmuddelimage aus der Frühzeit nie ganz ablegen konnte, als etwa Porno-Anbieter zu den wichtigsten Wirecard-Kunden zählten. Hinzu kam eine unglaubliche Hybris: So plante Braun die Übernahme des Riesen Deutsche Bank. Untersuchungen der Finanzaufsicht Bafin verliefen im Sande, obwohl Finanzjournalisten und Konkurrenten bereits belastendes Material veröffentlicht hatten. Sie warfen Wirecard erfundene Umsätze vor und prangerten eine gigantische Geldwaschmaschine an.

Doch dann kam es zum Knall: Im Juni 2020 rutschte der Konzern in die Insolvenz. Zuvor hatten sich angebliche Guthaben über 1,9 Milliarden Euro auf den Philippinen in Luft aufgelöst. Einer der größten Wirtschaftsskandale der deutschen Nachkriegsgeschichte war perfekt. Die Arbeit der Staatsanwaltschaften begann. Braun trat als Vorstandsvorsitzender zurück und wurde später verhaftet. Finanzchef Jan Marsalek, der auch verdächtigt wird, Agent russischer Nachrichtendienste zu sein, tauchte ab und wird seither von der deutschen Polizei per internationalem Haftbefehl gesucht – bislang vergeblich.[2]

Braun ist wegen gewerbsmäßigen Bandenbetrugs, Untreue, Marktmanipulation und unrichtiger Darstellung in den Bilanzen des Konzerns angeklagt.

Das Wirecard-Debakel hatte auch politische Folgen. Von einer Reform der Finanzaufsicht Bafin bis zu einem Untersuchungsausschuss des Bundestages, der versuchte, Licht in das Netzwerk aus Lobbyisten zu bringen, das vom Hamburger Bürgermeister bis zum »Bild«-Chef gereicht haben soll. Gegen die britische Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young, die über zehn Jahre die Bilanzen von Wirecard jährlich bestätigt hatte, verhängte die deutsche Prüferaufsicht Apas ein Neugeschäftsverbot – quasi die Höchststrafe.

Neben dem hochkomplexen Strafprozess am Landgericht laufen ungezählte Schadensersatzklagen von Gläubigern und Kleinaktionären. Über mögliche Ansprüche der Aktionäre verhandeln seit vergangener Woche auch die höchsten Zivilrichter am Bundesgerichtshof. Rechtsstreitigkeiten werden die Gerichte noch lange beschäftigen, ließ der bereits seit mehr als fünf Jahren amtierende Insolvenzverwalter Michael Jaffé kürzlich die Investoren wissen. Er beziffert die Forderungen der Gläubiger und Aktionäre auf insgesamt 15,4 Milliarden Euro.

Der Strafprozess zieht sich derweil bereits seit Dezember 2022 hin. Berge von Akten werden gewälzt. Für Verwirrung sorgt, dass die drei Angeklagten andere bezichtigen. Braun zeigt immer wieder auf Oliver Bellenhaus, ehemaligen Statthalter von Wirecard in Dubai, der als Kronzeuge der Staatsanwaltschaft gilt. Mit von der Partie ist noch der Ex-Chefbuchhalter Stephan von Erffa, während mit Marsalek eine vermutlich zentrale Figur des Skandals fehlt.

In dieser Woche stehen für Markus Braun am Mittwoch und Donnerstag die nächsten Termine im Stadelheimer Hochsicherheitsgerichtssaal an. Zuletzt beschäftigten sich die Richter mit dem von den Ermittlungsbehörden sichergestellten Diensthandy des Ex-Vorstandschefs. Er nutzte zahlreiche Messengerdienste für geschäftliche Kommunikation. Im Raum steht der Vorwurf, dass er systematisch Textnachrichten, Chats und ganze Accounts gelöscht hat. Auch das bestreitet Braun und verweist auf den Wechsel einer SIM-Karte, was die Kammer aber so nicht gelten lässt.

Wie lang sich der Prozess und die U-Haft des Ex-Wirecard-Chefs noch hinziehen werden, ist unklar.[3] Derzeit wird mit einer Entscheidung des Landgerichts München I für Anfang 2026 gerechnet.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1185075.wirtschaftsskandale-prozesse-gegen-ein-boersenwunder.html
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1169170.jan-marsalek-das-phantom-der-wirecard-oper.html?sstr=wirecard
  3. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1189000.finanzkriminalitaet-wirecard-zu-langer-prozess.html?sstr=wirecard