Eine Uhr, eine Bank und ein Stationsschild gibt es noch. »Jacobsthal« ist darauf zu lesen. Es hängt an einem zweistöckigen Backsteingebäude aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, das unweit der sächsischen Gemeinde Zeithain an der Bahnstrecke von Riesa nach Berlin liegt, an dem aber schon lange keine Züge mehr halten. Der Bahnhof ist nicht nur verwaist, sondern auch reichlich heruntergekommen, sagt Peter Franke: Das Dach und die Fenster sind undicht, die Wände feucht, die Abwasseranlagen marode. Es ist keine Immobilie, um deren Besitz man sich reißen würde.
Und doch hat Franke sie erworben – genauer: der Förderverein der Gedenkstätte Ehrenhain-Zeithain, dessen Vorsitzender der Lehrer für Geschichte, Russisch und Englisch ist. Noch steht der formale Vollzug des Kaufs aus; der Eintrag ins Grundbuch sei noch nicht erfolgt. »Aber der Vertrag ist unterschrieben«, sagt Franke. Als Kaufpreis wurden 25 000 Euro vereinbart, was für ein Haus mit 4000 Quadratmeter Grundstück vermutlich nicht übertrieben viel, für einen ehrenamtlich tätigen Verein mit 30 Mitgliedern aber ganz sicher eine stolze Summe ist. Dabei ist sie nur ein Anfang: Um das Bahnhofsgebäude in einen passablen Zustand zu bringen, dürften Investitionen im sechsstelligen Bereich nötig sein.
Der Verein hat die Immobilie dennoch gekauft – und beweist damit nicht nur Mut, sondern auch beachtliches Beharrungsvermögen. 15 Jahre lang hat er ein anderes Projekt verfolgt. Er wollte einen Natur- und Geschichtslehrpfad in der angrenzenden Heidelandschaft[1] errichten. Diese gehört heutzutage zum Naturschutzgebiet (NSG) Gohrischheide und Elbniederterrasse Zeithain. In den Jahren von 1941 bis 1945 war es ein Ort beispielloser Grausamkeit und Unmenschlichkeit. Das NS-Regime hatte dort auf einem Militärgelände das Stammlager Stalag 304 (IV/H) errichtet, in dem Kriegsgefangene vor allem aus der Sowjetunion, aber auch aus anderen Ländern unter unvorstellbaren Bedingungen interniert[2] wurden. In der baumarmen Heidelandschaft mussten sie anfangs in Erdlöchern und im Schlamm hausen. Die hygienischen Zustände und die Verpflegung waren miserabel; Krankheiten wie Fleckfieber grassierten. »Im Schnitt gab es 20 Tote pro Tag«, sagt Franke. Bis die Rote Armee das Lager im April 1945 befreite, kamen in Zeithain bis zu 30 000 sowjetische Kriegsgefangene und einige Hundert Italiener und Polen um. Mehr NS-Opfer sind an keinem Ort in Sachsen zu verzeichnen.
An die Opfer wird in einer Gedenkstätte erinnert, die allerdings zehn Kilometer entfernt auf dem Areal des ersten Friedhofs des Lagers, dem heutigen Ehrenhain Zeithain, eingerichtet wurde. Auf dem eigentlichen einstigen Lagergelände bestand bis 1992 ein Truppenübungsplatz der Roten Armee. Die Gedenkstätte existierte bereits in der DDR, wurde aber 1991 vom damaligen Rat des Kreises Riesa geschlossen. Später wurde sie mit einer gründlich überarbeiteten Ausstellung neu eröffnet und seit 1998 vom Förderverein betrieben, bevor sie 2002 unter das Dach der Stiftung Sächsische Gedenkstätten genommen und von dieser gefördert wurde.
Der Verein indes war immer bestrebt, ein Gedenken auch auf dem historischen Lagergelände zu ermöglichen, zumal es auch dort einen großen Friedhof gibt, auf dem in 24 Massengräbern mehrere Tausend Tote liegen. Bei Ausgrabungsarbeiten im Rahmen von internationalen Sommercamps mit Jugendlichen aus vielen Ländern wurden daneben auch Fundamente von Arrest-, Küchen- und Entlausungsbaracken gefunden, der Verlauf der Lagerstraße wurde rekonstruiert. Franke und seine Mitstreiter hätten all das gern entlang eines Lehrpfads erklärt, auch mithilfe von Installationen, mit denen die Dimensionen der Baracken veranschaulicht werden sollten.
Doch die zuständige Umweltbehörde des Landkreises Meißen hatte Einwände und Bedenken. Jahrelang verhakten sich das Amt und die Gedenkstättenstiftung bei dem Thema; selbst politische Intervention aus dem Landtag konnte den Knoten nicht durchschlagen. Im Juli 2024 verlor die Stiftung den Glauben daran, dass das Vorhaben in absehbarer Zeit umzusetzen sei. Dafür bereitgehaltene Mittel aus ehemaligem DDR-Parteivermögen in Höhe von einer halben Million Euro, die bis Ende 2025 ausgegeben werden müssen, wurden teilweise in Gedenkstätten in Torgau und Großschweidnitz umgelenkt[3]. Ein anderer Teil der Gelder verfiel, ohne dass man in Zeithain sondiert hätte, ob es andere Verwendungszwecke gegeben hätte. Die Idee eines Lehrpfads, sagt Franke, gebe man zwar nicht auf. Aber, fügt er nüchtern hinzu, ein solcher werde wohl »auf lange Zeit nicht zustande kommen«.
Man hätte es dem Verein angesichts der jahrelangen, ehrenamtlichen und letztlich fruchtlosen Bemühungen nicht verdenken können, wenn er einen Strich unter das Thema gezogen hätte. Stattdessen ergriffen Franke und seine Mitstreiter die nächste sich bietende Gelegenheit für eine Alternative beim Schopf – und kauften den Bahnhof. Diesen hatte die Deutsche Bahn bereits im Jahr 2000 als Teil eines Pakets veräußert. Der Immobilienfonds, dem die Stationen danach gehörten, rutschte in die Insolvenz. 2012 wurde der Bahnhof Jacobsthal zwangsversteigert. Der Förderverein hatte schon damals gehofft, dass die Gedenkstättenstiftung mitbietet, die allerdings keine eigenen Immobilien erwirbt. Nun bot sich eine neue Chance. Nachdem der damalige Käufer den Bahnhof und eine benachbarte ehemalige Gaststätte jahrelang sich selbst überlassen hatte, wollte er sich jetzt von beidem trennen.
Für das Gedenken an das Kriegsgefangenenlager ist der Bahnhof von unschätzbarer Bedeutung. Er sei »die zentrale Anlaufstelle für den Transport von Kriegsgefangenen sowie Baumaterial und Versorgungsgütern für die Lager« gewesen, heißt es in einem aktuellen Newsletter der Gedenkstättenstiftung. Auf historischen Fotos des Lagers ist er vielfach zu sehen; Überlebende hätten sich oft noch sehr gut an den Namen und das Aussehen des Bahnhofs erinnert. Mittlerweile sei er »eine der wenigen sichtbaren baulichen Hinterlassenschaften des Kriegsgefangenenlagers und für viele Angehörige ein wichtiger Teil ihres Besuchs«, erklärt die Stiftung. Wenn sich die Chance biete, einen solchen Ort für das Gedenken zu sichern, »dann müssen wir zuschlagen«, sagt Franke. »Die Gelegenheit kommt so bald nicht wieder.«
Dass der Förderverein die Möglichkeit zum Kauf hatte, verdankt sich »einem Schatz«, sagt Franke. Es handelt sich um eine Spende einer Regionalgruppe des NS-Opferverbandes VVN-BdA aus dem sächsischen Vogtland[4], dem wiederum ein größerer Geldbetrag durch einen Nachlass zugeflossen war. Der VVN-BdA gehört neben der Gemeinde Zeithain und zwei Reservisteneinheiten zu den institutionellen Mitgliedern des Gedenkstätten-Fördervereins. Dass letzterem das Geld zur Verfügung gestellt wird, entschied der Landesvorstand des VVN-BdA. »Für uns«, sagt Franke, »war das ein Glücksfall zur rechten Zeit.«
Dem Vereinschef ist der neu entfachte Eifer anzumerken. Das zermürbende Ringen um den Lehrpfad ist Geschichte; nun werden Pläne für den Bahnhof geschmiedet. Auf dem Freigelände könnte einer der Viehwaggons aufgestellt werden, in denen die Gefangenen einst ankamen; man sei dazu mit dem Eisenbahnmuseum in Chemnitz-Hilbersdorf in Kontakt, sagt Franke. Im ehemaligen Wartesaal kann er sich eine Dauerausstellung vorstellen. In oberen Etagen könnte ein Seminarraum unterkommen, in dem mit Schulklassen gearbeitet werden kann; moderne Technik könne es ermöglichen, einen virtuellen Blick auf das Lagergelände zu werfen. »Im früheren Offizierslager Colditz kann man sehen, was mit Augmented Reality möglich ist«, sagt Franke, der freilich weiß, dass all das »weit in der Zukunft« liegt.
Kurzfristig gilt es, das Gebäude schrittweise instand zu setzen – und es gleichzeitig in die Erinnerungsarbeit einzubeziehen. Eine erste, provisorische Ausstellung war am Tag des offenen Denkmals am 21. September für zwei Stunden geöffnet; das Interesse sei »beachtlich« gewesen, sagt Franke. Weitere Besichtigungen wollen die Vereinsmitglieder jederzeit auf Nachfrage ermöglichen. Der eigentlichen Gedenkstätte wolle man keine Konkurrenz machen. »Wir können uns mit unseren Möglichkeiten gut ergänzen«, betont der Vereinschef, der weiß, dass die nächste, schwierigste Aufgabe im Werben um Spenden und Fördermittel besteht. Dass dem Verein in absehbarer Zeit noch einmal ein größeres Erbe zufließt, ist eher nicht zu erwarten. Dass er auch ohne solche »Schätze« beharrlich an der Umsetzung seiner Ideen arbeitet, hat er indes bewiesen. Nicht ausgeschlossen also, dass es in wenigen Jahren heißt: »Nächste Station: Gedenkort Jacobsthal«.