nd-aktuell.de / 19.10.2025 / Kultur

Frankfurter Buchmesse: Scheiß auf das Preisschild!

Über das Komplizierte und Einfache bei der Frankfurter Buchmesse 2025

Christof Meueler
Die gute Seele in der Kabine von Eintracht Frankfurt ist gegen Preisschilder: Timothy Chandler
Die gute Seele in der Kabine von Eintracht Frankfurt ist gegen Preisschilder: Timothy Chandler

»Von führenden Rechtsradikalen empfohlen« – das wäre doch ein guter Werbeslogan für den Verbrecher-Verlag[1], meint dessen Geschäftsführer Jörg Sundermeier. Vor der Verleihung des Deutschen Verlagspreises am vergangenen Mittwoch auf der Frankfurter Buchmesse wurde in rechten Blasen Stimmung gemacht. Der Bundesregierung wurde vorgeworfen, sie würde »radikal linke bis linksextreme Buchverlage«, selbstredend am Rande der Verfassungsfeindlichkeit, subventionieren, darunter auch der Verbrecher-Verlag, der neben 79 anderen Häusern mit einem »Gütesiegel« ausgezeichnet wurde, was jeweils 18 000 Euro Unterstützung bedeutet.

Die Anwürfe aus der Ecke von »Nius«, »Junge Freiheit« und AfD waren selbst Wolfram Weimer, dem konservativen Kulturstaatsminister, zu dumm. Zur Preisverleihung erklärte er, dass die prämierten Verlage mit »Haltung, Mut und intellektueller Redlichkeit für die Freiheit des Wortes eintreten. Wer Debattenräume öffnet, stärkt die Demokratie; wer sie mit Ideologie verengt, verfehlt ihren Geist – und auch den des Deutschen Verlagspreises.« Die drei Hauptpreise und damit jeweils 50 000 Euro bekamen Unrast, Konkursbuch und März[2].

Die haben solche Unterstützung auch bitter nötig. März beispielsweise war aus Geldmangel auf der Messe gar nicht mit einem eigenen Stand vertreten, veranstaltete aber am Donnerstag eine sehr schöne Party zur Feier der Verlagspreises (die Leute schrien beim Tanzen – gibt es auf der Messe fast nie). Am Freitag kam auch noch der Preis der Hotlist der unabhängigen Verlage obendrauf: Für den Roman »Die Liebe vereinzelter Männer« von Victor Heringer, den Maria Hummitzsch aus dem brasilianischen Portugiesisch übersetzt hat. »Diese Zigarette schmeckt nach 5000 Euro Preisgeld«, sagte der März-Verleger Richard Stoiber, als er sich danach glücklich eine ansteckte.

Im Vorfeld der Messe hatte die Buchbranche mal wieder Einblick in die Dauerkrise gewährt. Zwar werden nirgends in Europa soviele Bücher wie in Deutschland verkauft (9,9 Milliarden Euro Umsatz), doch die Zahl der Buchhandlungen geht ebenso zurück (jedes Jahr werden es 50 bis 100 weniger) wie die Zahl der Buchkäufer. Demnach haben 24,5 Millionen Menschen 2024 mindestens ein Buch gekauft, 2014 waren es noch zehn Millionen mehr.

Auch für die fiktionale Literatur gilt: wo sind die komplizierten Bücher?

Frisches Geld bringen eigentlich nur die »New Adult«-Bücher, für die sich Verlage wie Bastei-Lübbe (mit dem Imprint Lyx) oder Random House (mit Heartlines) neu erfinden. Das Image dieser bei jungen Menschen äußerst beliebten Bücher, deren Inhalte meist so sind wie ihre Titel, beispielsweise »Lessons in Faking« (von Selina Mae), »The Temporary Wife« (Catharina Maura) oder »Wo der Sturm uns findet« (Ali Kassemya), entspricht etwa dem der Comics in der Erwachsenenwelt der 1950er Jahre: Nein, nein, nein, das kann nicht gut sein. Aber wer versteht schon Teenager, wenn die es selbst kaum tun? Auf der Messe haben diese Produkte eine Halle für sich, denn »dort wird signiert, bis der Arzt kommt«, wie ein Sprecher der »Faz« sagte.

Mach es simpel, mach es erfolgreich – nach diesem Erfolgsrezept arbeitet auch die propalästinensische Protestbewegung. Ja, es ist ganz einfach: Der Krieg in Gaza musste aufhören, ein Wahnsinn. Doch die Rolle der Hamas wird regelmäßig aus dem Protest dagegen aus agitatorischen Gründen herausgekürzt, wie Maria Kanitz und Lukas Geck in ihrer Studie für den Verbrecher-Verlag »Lauter Hass. Antisemitismus als popkulturelles Ereignis«, die sie im Rahmen der Messe vorstellten, zeigen. Wer die Kontexte kappt, ist schnell beim Klischee und oft beim Antisemitismus. Es ist erschreckend, wie naiv oder suggestiv oder beides die Popprominenz von Cat Stevens bis Macklemore den Nahost-Konflikt verhandeln will, von der »Rothschild-Theorie« im Deutschrap und dem offenen Faschismus von Kanye West ganz zu schweigen. Die islamistische Hamas wird ignoriert, obwohl sie diesen Krieg mit dem Massaker am 7. Oktober 2023 begonnen hat. Auf zynische Weise nützt ihr der Katastrophenkrieg der israelischen Rechtsregierung mit 60 000 Opfern in Gaza, denn Israel ist dadurch international so diskreditiert und isoliert wie seit Jahrzehnten nicht mehr.

Auch für die fiktionale Literatur gilt: wo sind die Kontexte, wo sind die komplizierten Bücher? »Neben Romantik-Boom, KI und einer Handvoll Bestseller wird die Hochliteratur immer mehr zum Nischenprodukt«, klagte die »Süddeutsche Zeitung«. Oswald Egger[3], der Büchner-Preisträger vom vergangenen Jahr, berühmt-berüchtigt für die Komplexität seiner Literatur (inklusive Grafik) machte bei der Lesung seines neuen Buchs »Oskar Fiala und das Prinzip der kleinsten Wirkung« einen Vorschlag: »Man muss sich meine Bücher eigentlich nur von außen anschauen und könnte sie dann selbst schreiben«.

Eggers neues Buch handelt von der Bergung und Rekonstruktion des völlig untergegangenen Werks eines 1948 verarmt verstorbenen Leipziger Arbeiterschriftstellers, der als Buchdrucker arbeitete und an schizoiden Schüben litt. Egger war auf ihn in historischen Krankenakten aufmerksam geworden und wusste anfangs nur sein Geburtsdatum, weder den Namen noch die Stadt. Schließlich half ihm das Aufnahmebuch eines Krankenhauses weiter. Und jetzt interessiert sich für Fiala sogar die Stadt Leipzig.

Irgendwie verschütt gegangen ist auch der Frankfurter Avantgarde-Schriftsteller Jürgen Ploog[4], der dieses Jahr 5. Todestag und 90. Geburtstag hatte. Der frühere Journalist und heutige Antiquar Wolfgang Rüger hat mit »Ploog. West End« einen höchst abwechlungsreichen Reader herausgegeben, den er in nur einem Jahr aus dem Boden gestampft habe, wie er bei einer Lesung am Samstag erzählte. In der westdeutschen Unterground-Literatur gab es die Kölner und die Frankfurter Linie. Die Kölner wurde bestimmt durch den schon 1975 verstorbenen Rolf Dieter Brinkmann, die Frankfurter durch Ploog, der laut Rüger leider völlig im Schatten von Brinkmann stehe, obwohl er diesem künstlerisch weit überlegen sei. Das liegt auch daran, dass Brinkmann bei Rowohlt veröffentlichte und Ploog 50 Jahre lang nur in Kleinverlagen, er wollte keine Kompromisse zu machen. Doch von den Feuilletons sei er konstant ignoriert worden – vorallem wegen seines Berufs als Pilot der Lufthansa.

Das galt vielen im Wortsinn als zu abgehoben. Und dann sah er noch gut aus, war sehr groß und konnte fast alles besser. Während man heute von Ploog als »Piloten, der auch geschrieben hat« spreche, möchte Rüger das Bild künftig korrigieren: »Ein Schriftsteller, der als Pilot arbeiten musste, um leben zu können.« Schon als der mit dem Fliegen 1958 anfing, habe er sich damit unglücklich gefühlt.

Dorothee Elmiger, die überraschend mit dem anspruchsvoll-verschachtelten Roman »Die Holländerinnen«[5] den Deutschen Buchpreis gewonnen hat, bekannte bei einer Lesung, dass sie beim Romanschreiben ständig darüber nachdenke, ob sie das alles nicht sein lassen solle, um stattdessen lieber ein Studium der Sozialen Arbeit zu beginnen. Ihr Anspruch sei es, dass jeder Satz ein Ereignis sein sollte, auch sprachlich, um die Geschichte voranzutreiben. Sie will beim Lesen wie beim Schreiben etwas erfahren, dass sie noch nicht weiß. Es sei wie bei einem Kind, dass zu einem gelaufen kommt und sagt: »Guck mal, ich habe diesen Stein gefunden.«

Doch es gibt auch im Mainstream die einfachen Sachen, die einen anrühren. Bei der Vorstellung von »Stimmen der Eintracht«, dem zweiten Buch von Michael Horeni über das lokale Universum Eintracht Frankfurt, mit den persönlichen Geschichten von (Ex-)Spielern, Funktionären und Fans, berichtet beispielsweise der SGE-Anhänger und Grünen-Politiker Omid Nouripour von seiner traumatischen Kindheit im Iran, insbesondere während des achtjährigen Kriegs gegen den Irak. Nicht der Fußball half ihm, der mit 13 nach Frankfurt kam, das zu bewältigen, sondern eine Psychotherapie. Timothy Chandler, als noch aktiver Bundesligaprofi so etwas wie die »gute Seele in der Kabine«, sagt, dass ihm dort oft Spieler gegenübersitzen und er sehe nur, »dass sie ein Preisschild auf ihrer Stirn« tragen. Das verleihen ihnen die Medien und die Manager und setzten sie unter Druck.

Aufgrund seiner eigenen Erfahrungen mit diversen Ups, Downs und Demütigungen sage er ihnen: »Scheiß auf dein Preisschild!«. Denn dann könnten sie ganz anders spielen. Für die Mannschaft und für das Stadion. Klingt wie eine Marketing-Fantasie? Nein, das ist ein Satz für Elmiger, Ploog und den ganzen Rest der menschlichen Vernunft.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1193337.literatur-sie-nahmen-mich-gefangen.html?sstr=verbrecher-verlag
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1162260.literatur-habt-keine-angst.html?sstr=barbara|kalender
  3. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1183875.lyrik-oswald-egger-von-den-steinen-zu-den-wolken.html?sstr=oswald egger
  4. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1137298.mit-blauer-sonnenbrille.html?sstr=jürgen|ploog
  5. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1194737.deutscher-buchpreis-aus-den-traurigen-tropen-buchpreis-fuer-dorothee-elmiger.html?sstr=elmiger