nd-aktuell.de / 20.10.2025 / Kultur

Erhellung durch dunkle Kontaktlinsen

Heute vor 40 Jahren erschien Günter Wallraffs Bestseller »Ganz unten«

Thomas Blum
Mit Haarteil und »Ausländerdeutsch« verwandelte Wallraff sich in den Türken Ali
Mit Haarteil und »Ausländerdeutsch« verwandelte Wallraff sich in den Türken Ali

»Ganz unten« lautet der Titel des Buches. Auf dem Cover ist ein schwarzhaariger, schnauzbärtiger Mann mit schmutzigem Gesicht zu sehen. Seiner verdreckten Kluft und seinem Bauhelm nach zu urteilen, auf dem das Logo des Stahlkonzerns Thyssen prangt, handelt es sich um einen Industriearbeiter. Im Hintergrund bläst ein Fabrikschornstein Rauch in die Atmosphäre.

Das Buch, das genau 40 Jahre alt ist, ist bis heute eines der kommerziell erfolgreichsten Sachbücher in Deutschland nach 1945. Erschienen ist es am 21. Oktober 1985. Schon vorab gab es einen enormen Medienhype um die bevorstehende Publikation: Der »Spiegel« brachte einen Vorbericht, auch das Fernsehen machte auf das Buch aufmerksam. Zwei Wochen nach Erscheinen des Titels waren bereits 650 000 Exemplare verkauft. 1986 kam es auch in der DDR heraus, als Lizenzausgabe des Aufbau-Verlags. Bisher wurden insgesamt über fünf Millionen deutschsprachige Exemplare abgesetzt. Das Buch wurde in 30 Sprachen übersetzt.

Autor des Buches ist offiziell der damals 43-jährige Günter Wallraff, der in der Folge zu einer populären Figur wurde. Als Journalist hatte er sich bereits mit seinen in den 60er Jahren entstandenen sozialkritischen »Industriereportagen« ins öffentliche Bewusstsein gerückt. 1977 war außerdem das unter seinem Namen erschienene Buch »Der Aufmacher«, in dem die fragwürdigen Praktiken in der »Bild«-Redaktion beschrieben und offengelegt werden, ein Beststeller geworden. (Wallraff war es, ausgestattet mit einer falschen Identität, gelungen, eine Zeit lang als »Reporter« für die Hannoveraner Lokalredaktion der »Bild« zu arbeiten.)

Bei Thyssen wird er behandelt wie der letzte Dreck. In Gaststätten wird er nicht bedient, sondern ignoriert.

Auch in seinem Buch »Ganz unten«, das ebenso wie sein erster großer Bestseller als eine Art Großreportage angelegt ist, kultiviert Wallraff seine Verfahrensweise: in eine Rolle zu schlüpfen, um so unerkannt gesellschaftliche Missstände zu recherchieren. Er erzählt von den Erfahrungen, die er als mittelloser Türke in Deutschland unter Deutschen macht.

Wallraff war in den Jahren 1983/84 zeitweise undercover unterwegs, war also abermals mit einer neuen Identität versehen. Als »Ali Levent«, mit einem »schwarzen Haarteil« auf dem Kopf und »dünnen, sehr dunkel gefärbten Kontaktlinsen« auf den Augen, ließ er sich von diversen Unternehmen und Konzernen anwerben. Dass er »der Türke Ali« ist, wurde ihm offenbar zu jener Zeit von den meisten ohne Weiteres geglaubt. Dort, auf dem Arbeitsmarkt, musste er, meist als papier- und rechtloser Tagelöhner oder Leiharbeiter, kurzzeitig am eigenen Leib erfahren, was viele Ausländer hierzulande über Jahrzehnte erleben: Alltagsrassismus, Ausgrenzung, Ausbeutung.

Wallraff alias »Ali« muss im Lauf seiner Odyssee durch Deutschland unterbezahlte Sklavenarbeit leisten: Auf einem Bauernhof wird er »wie ein Nutztier gehalten«, auf dem Bau und bei Thyssen behandelt wie der letzte Dreck. In Gaststätten wird er nicht bedient, sondern ignoriert. Von Vorgesetzten, Kollegen und Passanten wird er permanent gedemütigt und in rassistischer Form beleidigt und muss am Ende ernüchtert feststellen, »wie weit die Menschenverachtung in diesem Land gehen kann«.

Unvergessen dürften bis heute auch jene Passagen des Buches sein, in denen »Ali« Einblicke in den hektischen Arbeitsalltag bei McDonald’s gibt: »Einmal schickt der Manager einen Kollegen direkt vom Royal-Grill zu einem verstopften Klo. Der nimmt dazu den Grillschaber, den er gerade in der Hand hat, um den Auftrag schnellstens und gewissenhaft auszuführen.«

Oder jenes Kapitel, in dem erzählt wird, wie »Ali« anfangs – um zu testen, ob seine eigenwillige Maskerade glaubwürdig genug ist – als Zuschauer beim Politischen Aschermittwoch der CSU in der mit 7000 Personen gefüllten Passauer Nibelungenhalle auftaucht, um dem CSU-Vorsitzenden Franz-Josef Strauß zuzuhören. »Ich weiß nicht, ob einem Zigeuner, der eine Naziveranstaltung im Münchner Bürgerbräukeller besuchte, nicht ähnlich zumute gewesen sein muss«, kommentiert Wallraff.

Tatsächlich erlebt er die bierselige Großveranstaltung, bei der eine, gelinde gesagt, aufgeheizte Stimmung herrscht, teils als bedrohlich (»Geh, schleich dich, aber hurtig«), teils als rauschhaft-enthemmt: »Auf den Gängen bilden sich Rinnsale von Urin, und auch im Saal erleichtert sich schon mal einer durchs Hosenbein.« Am Ende wird »Ali«, weil es ihm gelingt, sich als Abgesandter des türkischen Faschisten-Chefs auszugeben, zu Strauß persönlich vorgelassen, der für ihn einen Franz-Josef-Strauß-Bildband signiert (»Für Ali mit herzlichem Gruß F. J. Strauß«).

Zweifellos ist Wallraffs Bestseller »Ganz unten« bei seinem Erscheinen – drei Jahre nach dem Ende der sozialliberalen Ära Brandt/Schmidt – wenigstens eines gelungen: Durch ihn wurde eine größere Öffentlichkeit darauf aufmerksam gemacht, dass die Bundesrepublik Deutschland unter dem damaligen Kanzler Helmut Kohl (CDU) alles andere ist als der perfekte Rechtsstaat. Hinter den Kulissen der westdeutschen Vorzeigedemokratie, die bemüht war, den Stolz auf ihre NS-»Erinnerungskultur« hervorzukehren, kam bei einem genaueren Blick genau jenes postnationalsozialistische Deutschland zum Vorschein, das nie verschwunden war. Viele Textstellen im Buch zeigen, wie ungebrochen Antisemitismus und rassistische Denkweisen in der sogenannten ganz normalen Bevölkerung der BRD fortexistierten.

Der Stil, in dem das Buch verfasst ist, mag einiges zu seinem Erfolg und seiner massenhaften Rezeption beigetragen haben. Es ist geschrieben im holzschnittartig-reißerischen Sound einer Boulevard-Reportage, der den Lektürevorlieben eines Massenpublikums entgegenkommt, das einerseits Mitleid mit den geschilderten Ausgebeuteten empfinden soll und dem andererseits die Einfühlung und Identifikation mit dem Helden (Wallraff/Ali) angeboten wird: Die kleinen Leute sind allesamt »gut« und haben das Herz am rechten Fleck, wohingegen die Chefs und Angehörige der oberen Klassen allesamt »böse« und herzlos sind. Die Leser sollen vor allem angerührt oder empört sein. Der langjährige »Konkret«-Herausgeber Hermann L. Gremliza nannte das einmal eine »Literatur der sozialen Krampfader«.

Ehemalige Mitarbeiter Wallraffs haben wiederholt berichtet, dieser habe ein Kollektiv von Helfern und Ghostwritern, die für den Journalisten den Text »aufbereiten«. Wallraffs ehemaliger Mitarbeiter Uwe Herzog, der mit ihm an »Ganz unten« gearbeitet hat, sagte etwa der »Welt am Sonntag«: »Wallraff hat sich zwar als Autor ausgegeben, er konnte aber schließlich nicht vor Gericht bezeugen, was tatsächlich andere an seiner Stelle recherchiert hatten.«

Der Erste, der die Autorschaft Wallraffs an seinen Büchern bestritt beziehungsweise auf dessen »Methode des Schreibenlassens« hinwies, war Hermann L. Gremliza, der der Öffentlichkeit bereits 1987 mitteilte, dass den »Aufmacher« er verfasst habe, Gremliza, und zwar »von der ersten Zeile des Vorworts bis zur letzten des Nachworts … Nicht anders verhält es sich mit dem größten Teil des zweiten ›Bild‹-Buchs und einem kleineren des dritten; die anderen Teile und die anderen Bücher, Aufsätze, Rezensionen und Reden haben andere geschrieben. Ich sage die Wahrheit, und Wallraff lügt nicht: Keins seiner Werke hat er geschrieben, und alle stammen von ihm. Denn der weltberühmte Autor, der nicht schreiben kann, hat es vermocht, die verschiedenartigsten Autoren, deren Hilfe er sich versicherte, auf jenen einheitlichen Ton zu stimmen, der den echten Wallraff verbürgt.«

Doch gab es nicht nur Debatten über die Autorschaft Wallraffs, sondern auch über die Art seiner Selbstinszenierung als moralisch überlegene Robin-Hood-Figur und heldenhafter Anwalt der Ausgebeuteten und Entrechteten, der stellvertretend für sie leidet und der die Leser an seinen vermeintlich authentischen Erfahrungen teilhaben lässt.

Wallraffs Methode, sich mit schwarzer Perücke und Kontaktlinsen als »Türke« zu verkleiden und, in dieser Kostümierung steckend, obendrein ein von ihm selbst kreiertes eigenwilliges »Ausländerdeutsch« zu sprechen, kann heute zumindest als fragwürdig gelten. Was damals als clevere Taktik der Verstellung oder mutiges Verfahren der verdeckten Recherche wahrgenommen wurde, wirkt heute wie eine gründlich missratene rassistische Zirkusnummer beziehungsweise eine Variante des Blackfacing: Der gebildete Deutsche spielt anderen den vermeintlich dummen und hinterwäldlerischen Türken vor und reproduziert dabei genau jene Stereotype und rassistischen Klischees, die er zu kritisieren vorgibt.