nd-aktuell.de / 21.10.2025 / Politik

Linke: Vom Plenarsaal auf die Barrikaden

Warum parlamentarische Arbeit ein wesent­licher Bau­stein für den Erfolg der Linken und den Weg zum demo­kra­tischen Sozialismus ist

Katalin Gennburg, Jule Nagel
Eine Stimme auf der Straße und im Parlament: Die EU-Abgeordnete Özlem Demirel sowie die Linke-Vorsitzenden und Bundestagsabgeordneten Ines Schwerdtner (v. l.) und Jan van Aken (r. oben) bei einer Kundgebung für Frieden in Gaza.
Eine Stimme auf der Straße und im Parlament: Die EU-Abgeordnete Özlem Demirel sowie die Linke-Vorsitzenden und Bundestagsabgeordneten Ines Schwerdtner (v. l.) und Jan van Aken (r. oben) bei einer Kundgebung für Frieden in Gaza.

Die Linke hat kurz vor der Bundestagswahl eine denkwürdige Kehrtwende hingelegt und ist mit einem der besten Ergebnisse seit der Gründung souverän als Fraktion in den Bundestag und auch ins Interesse der Medienöffentlichkeit zurückgekehrt[1]. Wiederentdeckte Taktiken linker Politik durch direkte Hilfsangebote, Organizing in den Betrieben, Haustürgespräche, aber auch eine professionelle und strategische Öffentlichkeitsarbeit vor allem im Social-Media-Bereich scheinen sich deutlich in Wähler*innenstimmen ausgezahlt zu haben. Dem Pakt von CDU und AfD zur Verschärfung der Migrationspolitik widersprach Die Linke in klarer und authentischer Art und Weise. »Wir sind die Brandmauer!«, lautet unser Versprechen – auch dieses Momentum trug zum Comeback bei.

Sprachrohr für Partei und Bewegung

Eine sehr wichtige Rolle für unsere politische Glaubwürdigkeit spielt die individuelle Ausgestaltung des Mandats durch die Gewählten. Der über die Jahre ritualisierte und an vielen Stellen (nachvollziehbarerweise) von Unverständnis geprägte Blick vieler Basismitglieder auf die frühere »Fraktionsblase« im politischen Berlin darf kein Dauerzustand bleiben. Ein sinnvoller Einsatz von realistischen Mandatszeitbegrenzungen und die parteiinterne Deckelung der Abgeordnetendiäten können hierzu beitragen. Für Diskussion und Auseinandersetzung zwischen Basis und Fraktion(en) sollten Orte etabliert werden, und die Anbindung unserer Abgeordneten an die Basisarbeit vor Ort sollte selbstverständlich sein.

Insbesondere geht es uns hier darum, die Position von Abgeordneten als Sprachrohr und Ressource für Partei und Bewegung zu betrachten. Hierzu gehört die Frage, wie wir unsere Wahlkreisbüros nutzen. Wir halten es für dringend geboten, diese Orte ganz selbstverständlich nicht nur für Aktivitäten rund um die Partei, sondern für alle Menschen im eigenen Wahlkreis zu öffnen, die sich für eine solidarischere Gesellschaft einbringen wollen. Von Antifa- und Klimagruppen bis zu lokalen Kulturvereinen und Freizeittreffs ist die Klientel, die unsere Räume benötigt und nutzt, sicher je nach Standort sehr unterschiedlich. Vor allem im ländlichen Ostdeutschland, wo es teilweise kaum oder keine Treffpunkte außerhalb einer stramm rechten Hegemonie gibt, sehen wir uns in einer besonderen Verantwortung, einen Schutzraum, Support und Infrastruktur für die verbliebenen demokratischen Akteur*innen anzubieten.

Je nach Anforderungen können unsere Büros vieles sein: Plenumsort und Bibliothek, Veranstaltungslocation und Techniklager, Café und Kneipe, Copyshop und Beratungszentrum. Um diese Funktionen zu erfüllen, braucht es aber nicht nur Ressourcen für Einrichtung und Miete, sondern auch eine solidarische Vergütung für Genoss*innen, die unsere Büros betreuen und progressive Akteur*innen im Wahlkreis miteinander vernetzen.

Neben der Bedeutung als Treffpunkt und offener Raum ist ein wichtiger Aspekt auch der besondere Schutzstatus von Abgeordnetenbüros. Von der Bereitstellung der Postadresse für Initiativen bis hin zu verschlüsselten und sicheren IT-Angeboten können wir unsere Namen für diejenigen hinhalten, die in ihrer Arbeit lieber anonym bleiben wollen. Die Idee und Umsetzung von offenen Büros hat in unserer Partei inzwischen eine lange Traditionslinie, und heute werden viele Abgeordnetenbüros als solche Kollektivorte geführt. Die Erfolge dieser Bürokonzepte lassen sich in Leipzig, Dresden, Berlin-Treptow und anderswo nachvollziehen.

Mandate als Schutz für Aktivisten

Das Parlamentsmandat exponiert uns, bietet darüber hinaus aber auch einen rechtlichen Schutz, um etwa Demonstrationen und Aktionen des zivilen Ungehorsams als parlamentarische Beobachter*innen zu begleiten. Wo wir als Anmelder*innen von Kundgebungen auftreten, können wir außerparlamentarische Akteur*innen entlasten und unterstützen.

Die parlamentarischen Möglichkeiten sind aber auch darüber hinaus vielfältig. Es gilt, die eigene Zeit nicht nur an den analogen und digitalen Kampfplätzen zu verbringen, die auch ohne Mandat zugänglich wären. Sehr wirkmächtig lässt sich mit parlamentarischen Instrumenten der politische Betrieb aufmischen.

Viel ist in jüngerer Zeit über die Bedeutung von Haustürgesprächen, betrieblicher Organisierung und Gegenmacht von unten geschrieben worden. Diese Konzepte und strategischen Überlegungen erwiesen und erweisen sich als enorm bedeutsam für die Neuaufstellung der Linken als Mitmach- und Kümmererpartei. Zuweilen werden Verlautbarungen dazu jedoch von einem Impetus getragen, der Verantwortungsträger*innen und Abgeordnete unserer Partei kollektiv als lethargische Bürokrat*innen und bloße Karrierist*innen darstellt, die sich stets auf der Jagd nach dem nächsten vermeintlich lukrativen Posten befänden und die man entsprechend an die Kette legen müsste. Wahlweise wird dabei die Möglichkeit progressiver Veränderungen durch parlamentarische Arbeit gleich mit unter den Bus geworfen und der Machtaufbau an der Basis der Gesellschaft – der Haustür – zur einzig erfolgversprechenden Strategie erklärt.

Bei allem verständlichen Frust über ehemalige Mitglieder dieser Partei, die unsere Strukturen und Mandate für den Aufbau eines nationalistisch-autoritären Gegenprojekts missbraucht haben, halten wir diese polarisierte Erzählung von Basis vs. »Funktionär*innen« auf mehreren Ebenen für irreführend und falsch. Keinesfalls plädieren wir für eine Heroisierung von Mandatsträger*innen, aber wünschen uns eine innerparteiliche Kultur, welche die großen persönlichen Aufwendungen, die Abgeordnete genau wie die unzähligen ehrenamtlich tätigen Menschen in unserer Partei leisten, gleichermaßen wertschätzt.

Eine Partei, die sich als Kümmerer geriert, wird langfristig nur dann gewählt, wenn sie glaubhaft Wege zur Umsetzung ihrer Forderungen präsentieren kann.

Statt das Wirken im Rahmen des parlamentarischen Systems und außerparlamentarische Organisierung als gegensätzliche Strategien zu propagieren, sollten wir beides als zwei Seiten der gleichen Medaille begreifen. Ohne direkte Ansprache an der Haustür, auf Tiktok und am Werkstor keine Verankerung in der breiten Masse. Ohne Strategie, die auf parlamentarische Wirkmächtigkeit orientiert, eben auch keine realistische Perspektive, gesellschaftliche Zustimmungswerte tatsächlich in systemische Veränderungen umzusetzen. Eine Partei, die sich als Kümmerer und Empowerer geriert, wird langfristig nur dann auch gewählt werden, wenn sie glaubhaft Wege zur Umsetzung ihrer Forderungen präsentieren kann.

Im Plenarsaal selbst können uns sowohl die Konfrontation auf offener Bühne als auch das nachdenkliche Gespräch im Hinterzimmer weiterbringen. Es braucht unermüdlich nervende Abgeordnete, politische Verlässlichkeit zwischen den Machtebenen Partei–Parlament–Regierung und Bewegung, außerdem die Zuarbeiten von Expert*innen in Wissenschaft, Ämtern und Fachverbänden. Dieses komplexe Zusammenspiel lässt sich nur durch Glaubwürdigkeit der einzelnen Beteiligten erzielen, und die bekommen wir dann, wenn wir Überzeugungstäter*innen in unseren Spielfeldern mit sichtbarer Vorgeschichte sind und nicht so tun, als wäre das Parlament nur eine Bühne.

Was ein dezidiert antiparlamentarischer Ansatz darüber hinaus schnell aus dem Blick verliert, ist die Möglichkeit einer Politik der kleinen Schritte, die schon heute in der Lage ist, konkrete Momente der Solidarität und kollektiven Fürsorge parlamentarisch zu erkämpfen. Statt auf den Streif der Klassenmacht am Horizont zu warten, verlangen die sich zuspitzenden Verhältnisse von uns als Partei des demokratischen Sozialismus, bereits in der Gegenwart den engen Rahmen des Möglichen auf pragmatischen Wegen auszunutzen.

Wir stehen für einen komplementären Ansatz. Parteiaufbau und -organisierung sind kein Selbstzweck, gesellschaftliche Bündnisse kommen nicht von allein und eine von allem abgeschottete Fraktion, die sich hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt, braucht niemand. Doch erst im Zusammenwirken im strategischen Dreieck von Parlament, Partei und Gesellschaft werden wir eine stärkere Wirkung erzielen, davon sind wir überzeugt. Für die Zukunft braucht es Verfahren, um die naturgemäß auftretenden Widersprüche von linker Politik in Regierungsverantwortung und Parteipositionen konstruktiv zu bearbeiten und in konkreten Fällen handlungs- und sprechfähig zu sein. Dazu benötigt es Räume, Zeit und vor allem die allseitige Bereitschaft, Debatten konstruktiv und unter Anerkennung eigener vergangener Fehler zu führen.

Zeit für einen linken Aufbruch

Anti-Establishment und gestaltende Politik müssen sich keinesfalls ausschließen. Worum es uns gehen muss, ist einerseits die Ausarbeitung konkreter Utopien, verbunden mit der Anerkennung der Notwendigkeit von Kompromissbildung bei deren Umsetzung. Unsere Wähler*innen müssen sich darauf verlassen können, dass wir im Zweifel zu unseren Grundsätzen und unserem Wahlprogramm stehen, deretwegen sie uns ihre Stimme gegeben haben. Dieses neben unzähligen inhaltlichen Differenzen zentrale Unterscheidungskriterium zur rückgratlosen Realpolitik von SPD und Grünen hat uns nach dem Fall der Brandmauer im Januar 2025 zahllose Stimmen zurückerobert und ist von essenzieller Bedeutung, um die Mehrheit der progressiv denkenden Menschen auf Bundesebene langfristig an uns binden zu können.

Wenn, und nur wenn, der Erhalt unserer Glaubwürdigkeit auf der einen und die Erarbeitung im parlamentarischen Rahmen umsetzbarer Schritte der Transformation zum demokratischen Sozialismus auf der anderen Seite gelingen, können unserer Meinung nach linke Regierungsoptionen erfolgreich und ein Weg zur Verwirklichung konkreter Utopien sein. Es ist an uns allen – auf der Straße, an den Haustüren, in den Wahlkreisbüros und Plenarsälen –, in den nächsten dreieinhalb Jahren die Weichen dafür zu stellen, dass wir als Etappenziel dorthin 2029 deutlich zweistellig in den Bundestag einziehen, uns in den Landesparlamenten (wieder) etablieren und zur zentralen Stimme der gesellschaftlichen Linken werden.

Links:

  1. https://emanzipation.org/2025/03/die-linke-nach-der-wahl-aufbauen/