Der Zorn eines jungen Mannes – die gesamte Menschheitsgeschichte basiert darauf. Dieser Satz aus dem Mafia-Drama »Kingdom – Die Zeit, die zählt« hallt noch lange nach. Auf den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes feierte das Spielfilmdebüt des französischen Regisseurs Julien Colonna seine Premiere – und zog das Publikum in seinen Bann. Erzählt wird die Geschichte des korsischen Mafiabosses Pierre-Paul, jedoch aus der Perspektive seiner 15-jährigen Tochter Lesia, die durch eine Fehde zwischen nationalistischen Gruppen und Mafiafamilien jäh aus ihrem Teenagerleben gerissen wird.
Es beginnt fast wie in einem Coming-of-Age-Film, wäre da nicht die Sache mit dem frisch erlegten Wildschwein, das Lesia in der Eröffnungssequenz tapfer ausweidet. Ansonsten lebt die Halbwaise bei ihrer Tante in einem abgelegenen Dorf, ist gerade frisch verliebt und genießt Mitte der 90er Jahre die Sommerferien in ihrer korsischen Heimat. Doch als auf ihren Vater ein Mordanschlag verübt wird, ordnet dieser an, dass sie in das abgeschottete Familienanwesen gebracht wird.
Sie will ihm beweisen, dass sie stark ist, dass sie dazugehört – selbst wenn das bedeutet, seine grausame Welt zu teilen.
Nur ganz am Rande bekommt Lesia etwas von der Bedrohungslage mit. Hinter verschlossenen Türen und Fenstern reden ihr Vater und seine Handlanger aufgeregt miteinander, ab und an schnappt Lesia Gesprächsfetzen oder Nachrichten über blutige Attentate im Fernsehen auf. Zunächst ist unklar, welcher dieser einschüchternden Männer eigentlich ihr Vater ist – so sehr ist Pierre-Paul in seiner Rolle als Mafiapatriarch gefangen.
Kameramann Antoine Cormier bleibt konsequent bei Lesias Blick auf die Situation. In vielen Nahaufnahmen spiegelt sich in ihrem Gesicht die ganze Unsicherheit dieser angespannten Atmosphäre – Angst, Trotz, Sehnsucht, Stolz und Neugier zugleich. Anfangs sehnt sich Lesia nach ihrem normalen Teenagerleben, will zurück zu ihrem Freund. Doch mehr und mehr genießt sie die Möglichkeit, endlich wieder Zeit mit ihrem Vater zu verbringen – außerhalb der gemeinsamen Wildschweinjagd, die ihr eigentlich zuwider ist. Sie will ihm beweisen, dass sie stark ist, dass sie dazugehört – selbst wenn das bedeutet, seine grausame Welt zu teilen. Der Preis dafür ist, dass sie zu schnell erwachsen werden muss und in den Überlebenskampf ihres Vaters hineingezogen wird. Als sich die Lage weiter zuspitzt, bleiben Vater und Tochter allein auf der Flucht – gejagt von Polizei und Mafia.
Regisseur und Ko-Drehbuchautor Julien Colonna weiß, wovon er erzählt: Sein Vater Jean-Jé Colonna war selbst »Pate« in Südkorsika und kam 2006 unter mysteriösen Umständen bei einem Autounfall ums Leben. Die Authentizität dieses »Anti-Gangster-Films«, wie Colonna ihn nennt, spürt man in jeder Szene – nicht zuletzt, weil er ausschließlich mit Laiendarsteller*innen gearbeitet hat, die er in einem langen Castingprozess auf Korsika entdeckte.
Mit ihrer ersten Rolle als Lesia überzeugt auch Ghjuvanna Benedetti auf Anhieb. Ebenso beeindruckend ist Saveriu Santucci, der im echten Leben Schäfer und Bergführer ist. Er verleiht seiner Figur eine Mischung aus unerbittlicher Härte und stiller Liebe. Pierre-Paul ist ein Mann, der weiß, dass die gemeinsamen Tage mit seiner Tochter gezählt sind. Er befindet sich seit Jahrzehnten in einem ewigen Kreislauf aus Rache und Vergeltung. Er sah sich einst gezwungen, den Mörder seines Vaters zu töten – und hätte nie geglaubt, jemals so alt zu werden, geschweige denn seine Tochter groß werden zu sehen.
Seinen emotionalen Höhepunkt findet der Film in einem Gespräch zwischen Vater und Tochter auf einem Campingplatz, den sie auf ihrer Flucht aufgesucht haben. Hier erzählt der Vater ihr von sich, bittet sie um Vergebung – nur um kurz darauf in der Nähe eiskalt seiner »Arbeit« nachzugehen. Besser ließe sich kaum zeigen, dass er der Logik der Gewalt ausgeliefert ist. Ob die stolze Lesia dem ewigen Kreislauf der Rache entkommen kann oder in die Fußstapfen ihres Vaters gezwungen wird, bleibt bis zur letzten Sequenz ungewiss.
»Kingdom«, Frankreich 2024. Regie: Julien Colonna. Mit Ghjuvanna Benedetti; Saveriu Santucci; Anthony Morganti; Andrea Cossu; Fédéric Poggi; Régis Gomezaaf. 108 Min. Kinostart 23. Oktober.