nd-aktuell.de / 22.10.2025 / Politik

Widerstand gegen ICE: Die Nachbarn helfen

Wie sich Communitys in Chicago gegen die staatliche Verfolgung von Migranten wehren

Anjana Shrivastava
Mit lautem Protest und Hilfen für Verfolgte leisten Menschen in Chicago Widerstand gegen die Migrationspolitik der Regierung.
Mit lautem Protest und Hilfen für Verfolgte leisten Menschen in Chicago Widerstand gegen die Migrationspolitik der Regierung.

Chicago, im Volksmund die »Stadt der breiten Schultern«, stemmt sich gegen die Regierung Trump und ihre Politik der gewalttätigen Razzien gegen Einwanderer. Lokale Politiker unterstützen Einwanderer-Gemeinschaften, doch vor allem leisten die Communitys Widerstand. Chicago wird zum Epizentrum des Konflikts und damit zum Testfall für die ganze Nation.

Das bisherige Leben in Latino-Vierteln wie Pilsen oder Belmont Cragin wird seit Mitte September durch das Vorgehen von ICE-Beamten völlig auf den Kopf gestellt. Eine Lehrerin berichtete der Zeitschrift »Education Week«, wie eine stillende Mutter von ihrem Säugling getrennt und von den Beamten verhaftet wurde; die Kinder blieben beim Vater zurück. Silverio Villegas Gonzalez wurde am 12. September erschossen, als er in seinem Auto den ICE-Beamten entfliehen wollte. Die ICE-Beamten gaben an, dass Gonzalez sie frontal angefahren habe und sie dadurch ernsthafte Verletzungen davon trugen. Doch später bewiesen die Bodycams von lokalen Polizisten: Gonzalez ist vor den Beamten rückwärts weggefahren und die Beamten haben die zur Hilfe eilenden Sanitäter beschwichtigt, dass sie nur Kratzer davon getragen hätten. Ungefähr 1500 Verhaftungen wurden seit Beginn der »Operation Midway Blitz[1]« vollzogen – angeblich gegen Schwerstkriminelle, tatsächlich aber meist gegen Menschen, die polizeilich unauffällig waren.

Solche Auseinandersetzungen kennt man aus der Zeit der Black-Lives-Matter- Bewegung. Aber diese Gewalt, die in der Entführung von Migranten gipfelt, ist nicht das, was das demokratische Establishment Chicagos im Moment hauptsächlich beschäftigt. Den von Ex-Präsident Barack Obama eingesetzten Bundesrichtern in Chicago geht es zurzeit vor allem darum, die Versammlungsfreiheit der US-Bürger vor dessen Nachfolger Donald Trump zu verteidigen. So brenzlig ist die Situation, dass Richter auf eine Art politische Triage angewiesen sind.

ICE-freie Zonen

Die Einwanderer-Gemeinschaften haben starke demokratische Unterstützer an ihrer Seite: Illinois-Gouverneur J.B. Pritzker und der Bürgermeister von Chicago, Brandon Johnson, von denen Trump behauptet, dass sie ins Gefängnis gehörten. Vor einigen Tagen unterschrieben sie gemeinsam einen Erlass, dass alle städtischen Einrichtungen und alle sich verweigernden Geschäfte ICE-freie Zonen bleiben sollen. Pritzker bezeichnet die Scharen von Bundesbeamten, darunter Agenten der ICE-Behörde und Central Border Patrols, als Geheimpolizei von Donald Trump. Diese Beamten, maskiert und oft ohne Abzeichen, zerren Einwohner in Autos ohne Kennzeichnung. Zum Überfluss tragen ICE-Beamte militärische Camouflage, obwohl sie gar keine Militärs sind.

Trotz der Unterstützung von Landes- und Stadtpolitikern sind die Latino-Nachbarschaften weitgehend auf Selbsthilfe angewiesen. Kinder werden von engagierten Mitbürgern in Gruppen wie »Patrulla Popular« instruiert, wie man vor ICE-Beamten warnt, mittels großzügig verteilten orangen Trillerpfeifen. Kurz gepfiffen bedeutet, dass ein ICE-Beamter gesichtet worden ist, ein langes Pfeifen, dass eine Festnahme beobachtet wurde.

Viele haben kein Einkommen mehr. Menschen mit Papieren unterstützen sie.

Seit Beginn der »Operation Midway Blitz« bleiben viele Einwanderer zu Hause, quasi im Untergrund. Sie müssen versorgt werden. Ehrenamtliche kaufen ein. Kinder müssen zur Schule gebracht werden. Viele haben kein Einkommen mehr, wie etwa die Verkäufer von Streetfood. Verkäufer mit Papieren haben eine Versicherung eingerichtet, um den Arbeitern ohne Papiere über die Runden zu helfen. Es gibt Rapid-Response-Einheiten aus Nachbarn, die während der Festnahmen dokumentieren und später die Familien betreuen. Traditionelle Heiler bieten an, die psychischen Traumata zu behandeln. Oft bekommen auch die lokalen Polizisten Chicagos die Gewalt der Bundesbeamten zu spüren, etwa bei Tränengas-Angriffen auf Demonstranten.

Nun versuchen Bundesrichter in Chicago wie Sara Ellis und Jeffrey Cummings in dieses Chaos etwas Ordnung zu bringen. Ellis zitierte den ICE-Leiter Russell Holt in ihren Gerichtssaal und bemängelte seine Aussagen. Sie konnte nicht erkennen, dass die kritischen Berichte gegen untergebene Beamte von der ICE-Führung überhaupt gelesen wurden. Ihre Anordnungen gegen die unnötige Verwendung von Tränengas vom 9. Oktober wurde von ICE-Beamten ignoriert. Ellis verlangt, dass die Beamten Abzeichen und Bodycams tragen. ICE behauptet, dass das Budget dazu fehle, obwohl Trump den Etat verdreifacht hat. Russell Holt verließ die Stadt umgehend nach der Anhörung, am Montag wurde er von seinem Nachfolger Kyle Harvick im Gericht vertreten. Der Richter Jeffrey Cummings urteilte Mitte Oktober, dass auch ICE-Beamte von der Chicagoer Polizei verhaftet werden können.

Einwanderer leiden am meisten unter der Gewalt der »Operation Midway Blitz«, bei der Migranten ohne Papiere verfolgt und verhaftet werden. Die Richter befassen sich indes eher mit gewalttätigen Methoden wie Tränengas-Angriffe auf Protestierende, weil so der friedliche Protest – möglicherweise im ganzen Land – faktisch verunmöglicht werden kann.

Das demokratische Establishment zielt auf Deeskalation

Das demokratische Establishment Chicagos versucht derweil, den Spieß umzudrehen. Pritzker veranstaltete – wie Trump vor einigen Wochen – eine große Konferenz mit ehemaligen Militär-Führern, und zwar solchen, die die Trump-Politik kritisieren. Eine Gruppe von 24 Gouverneuren sowie einige Ex-Militärs schrieben zudem offene Briefe an das Oberste Gericht. Ein Anlass: Vorletzte Woche hatte die Trump-Regierung das Gericht gebeten, das vorläufige Verbot des Einsatzes der Nationalgardisten in Chicago aufzuheben, damit die ICE-Beamten ihre Arbeit, von der Bevölkerung militärisch abgeschirmt, vollenden können. Die kritischen Gouverneure schreiben dazu: »Beamte in Illinois und Chicago haben sich nicht gegen Bundesgesetze gewehrt, sondern bereits mit den Bundespolizeibehörden zusammengearbeitet, um am Ort der bescheidenen Proteste in Chicago für Ordnung zu sorgen und den Demonstranten gleichzeitig die sichere Ausübung ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung zu ermöglichen«.

Das demokratische Establishment zielt auf Deeskalation. Diese pragmatische Argumentation hat vielleicht vor Gericht die besten Chancen. Doch was geschieht, wenn die Proteste eskalieren? Ist der Einsatz der Nationalgarde, die Teil der Streitkräfte sind, dann in Ordnung? Auf jeden Fall ist nun das Oberste Gericht am Ball: Wie urteilt es über den Einsatz von Militärangehörigen durch die Trump-Regierung in einer Stadt, die das nicht will?

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1194648.usa-wir-alle-haben-angst-vor-ice.html