Alexander Kluge, 93 Jahre alt, hört nicht auf zu suchen. Er ist auf der Suche nach Auswegen, die hinausführen aus einer kriegerischen Gegenwart. Bereits vor zweieinhalb Jahren hatte er mit seinem Buch »Kriegsfibel 2023« einen ähnlichen Versuch unternehmen: An Bertolt Brecht anknüpfend, der Kriegsfotografien mit Bildlegenden und jeweils vierzeiligen Epigrammen versehen hatte, um den Betrachter ein politisches Alphabet zu lehren, auf dass die Kriegslogik durchbrochen werde, hat Kluge Fotografien und Bewegtbilder (mittels QR-Code ins Buch aufgenommen) mit verschriftlichten Alltagserfahrungen und Szenen aus Kriegszeiten verknüpft, um das gleiche Ziel zu erreichen.
In seinem neuesten Werk hält er sich nicht an Brecht, sondern an den Kulturwissenschaftler Aby Warburg. Einen »Bilderatlas« hat er dieses Mal geschaffen. Fibeln, Atlanten, man merkt, dass es Kluge ums Verstehen geht. Gegen Krieg zu sein, gibt fast jeder vor. Aber der Autor hält an der Überzeugung fest, dass man begreifen kann, wie sich der Krieg festsetzt. Und dann kann man ins Handeln kommen.
Kluge geht es nicht um Rechthaberei. Wer würde nicht einsehen, dass Krieg eine lebensverneinende Kraft ist. In seinem Vorwort, »Die Vernunft als offene Baustelle« überschrieben, stellt er klar: »Kriege sind etwas Produziertes – von niemandem und keinem Ziel beherrschte Produktion. Der Gegenpol sind nicht Wünsche und guter Wille wie im Pazifismus. Es geht um GEGENPRODUKTION: (1) Gegenöffentlichkeit, (2) Gegenerzählung, (3) Gegenpraxis, (4) Anti-Kriegs-Produktion.«
Schon der Titel des Buches gibt einen Hinweis, worauf man sich bei der assoziationsreichen Lektüre einstellen darf. »Sand und Zeit« ist augenscheinlich an Martin Heideggers Opus magnum »Sein und Zeit« angelehnt. Vom »Nutzen eines Irrtums« spricht Kluge. Drei verschobene Buchstaben lassen aus den Schriften eines erzreaktionären Denkers ein hoffnungsvolles Buch werden, das den Frieden wieder denkbar macht. Dieses verspielte, fast kindliche Vorgehen, kleine Verschiebungen, verkehrte Perspektiven und Gedankenspiele sind der Ausgangspunkt für ein Nachdenken über Krieg, das nicht mehr auf der Stelle stehen will.
Die Punischen Kriege dauerten zusammen 118 Jahre.
Alexander Kluge
Von den Zerstörungen in Gaza springt Kluge zu den mittelalterlichen Kreuzzügen im Nahen Osten. Von den Drohnenkriegen der Gegenwart bewegt er sich zum Kriegsherrn Hannibal. Aufnahmen von Panzerwracks aus der kriegsgeschädigten Ukraine unserer Zeit treffen auf Marxens Betrachtungen des Krim-Krieges im vorvorletzten Jahrhundert. Anmerkungen zu einer falsch verstandenen Kriegspropaganda ergänzen Ausführungen zum kriegsentscheidenden Wetter, das mitunter das militärische Geschehen auf Pause setzt.
»Die Punischen Kriege«, rechnet uns Alexander Kluge vor, »dauerten zusammen 118 Jahre«. Welch ein Wahnsinn! Krieg und Gegenkrieg wechseln sich ab. Zwei Großmächte bekämpfen sich in absolutem Vernichtungswillen. Und auch die Historiker haben Mühe zu erklären, wie aufmüpfige Söldnertruppen – der Autor vergleicht sie mit Jewgeni Prigoschins Gruppe Wagner – zu einem über mehrere Generationen blutig ausgetragenen Konflikt führen konnten.
Von seinen miniaturhaften Beschreibungen kommt Kluge zu Aby Warburg, zu dessen Bilderatlas »Mnemosyne« und Vorgängerprojekten, in denen erste Kriegsfotografien auftauchen. Warburg zeigte etwa die Verschiffung von Pferden zum Zweck des Kriegseinsatzes: Die Kreatur wehrt sich gegen ihren Missbrauch. Pferde, will man meinen, sind nicht für den Krieg gemacht. Und Menschen?
»Sand und Zeit« illustriert nicht nur den Schrecken. Dem allgemeinen Säbelrasseln hält der Autor das Prinzip der Generosität entgegen. Großzügigkeit, eine seltene Waffe in der Politik, kann der Ausweg sein. Gelinde gesprochen, wirkt es unwahrscheinlich, dass die Regierungen der entscheidenden Staaten diesen Weg einschlagen wollen in einer Zeit, in der Friedensverhandlungen als Verrat an den Opfern militärischen Handelns missverstanden werden.
Aber tatsächlich kommt Frieden nie zustande, weil plötzlich ein globales Gleichgewicht entstanden, weil Harmonie eingekehrt wäre, weil Feinde auf wundersame Weise plötzlich versöhnt wären. Nur dieser unwahrscheinliche Schritt, der plötzliche Verzicht auf Ansprüche, Vergeltung und ausgleichende Gerechtigkeit, unterbricht den Krieg zugunsten eines Friedens. Ohne diesen notwendigen, wenn auch unwahrscheinlich wirkenden Schritt zum Frieden kämpfte man vielleicht noch ein halbes Jahrtausend um Elsass-Lothringen. Krieg muss nur als der Anachronismus erkannt werden, der er tatsächlich ist.
Keine leicht konsumierbare Ratgeberliteratur befreit uns aus den Fängen des Krieges. Ein Atlas ist nützlich, bleibt aber schwer zu lesen, ist sogar alleine, ohne Referenzpunkte in der Realität, weitestgehend unbrauchbar. Alexander Kluge lässt uns teilhaben an seiner gesammelten Erfahrung in Fragen von Krieg und Frieden.
In Zeiten der Militarisierung und eines neuen Kriegsenthusiasmus in der Bevölkerung dürften die Beispiele, die er gibt, die Verbindungen, die er aufzeigt, noch häufiger von Nutzen sein. Gegenöffentlichkeit und Gegenerzählung sind als erste Schritte in Richtung Frieden bereits gegangen, Kluge weist uns dahin den Weg. Für die Gegenpraxis und schließlich die Anti-Kriegs-Produktion müssen wir uns alle wappnen.
Alexander Kluge: Sand und Zeit. Bilderatlas. Suhrkamp, 168 S., geb., 25 €.