Where you are coming from, / You will not be missed. / Where you are going, / You will not be welcome. / But here on board, / Make yourselves at home.« Mit diesen Zeilen aus einem Gedicht Bertolt Brechts aus dem Jahr 1931 begrüßt der Kapitän des Frachtschiffs »Capitaine Paul Lemerle« die Passagiere an Bord: Menschen, die vor den Faschisten aus dem Frankreich der Vichy-Regierung fliehen, darunter der Surrealist André Breton, der Anthropologe Claude Lévi-Strauss, der kubanische Künstler Wifredo Lam, der kommunistische Schriftsteller Victor Serge sowie die Autorin Anna Seghers. Soweit der historische Hintergrund, denn dieses Frachtschiff stach im März 1941 tatsächlich mit diesen Passagieren in See, um die Flüchtenden von Marseille nach Martinique zu bringen, in »Sicherheit«, in die »Freiheit«.
»Niemand hält euch, hier / Werdet ihr nicht vermißt / Wo ihr hinkommt / Seid ihr nicht willkommen.« Diese desillusionierende Botschaft wirft der Kapitän den Passagier*innen an den Kopf. Dieser Kapitän ist kein anderer als Charon, der Fährmann der Toten, der zwischen der realen Welt und dem Totenreich hin und her schippert. Ein finsterer, mal etwas unheimlicher, mal eher jovialer Typ – »Well, on the day I was born, God was sick …« –, der als faszinierender Master of Ceremony durch die 90-minütige Oper beziehungsweise durch das Gesamtkunstwerk »The Great Yes, The Great No« des südafrikanischen Künstlers William Kentridge führt, mit dem die aktuelle »Performing Arts Season« der Berliner Festspiele beginnt.
An Bord des Schiffes leben alle im Zwischenreich von Leben und Tod, und so hat Charon (betörend: Hamilton Dhlamini) nicht nur die historischen Figuren an Bord, sondern er beschwört auch einige, die von der anderen Seite, von Martinique kommen, vor allem wichtige Protagonisten der antikolonialistischen Négritude-Bewegung wie Aimé und Suzanne Césaire, die zwei Jahre zuvor auf die Insel gereist waren, oder Jane und Paulette Nardal, die in Paris mit den Césaires und Léopold Senghor gearbeitet haben, und nicht zuletzt der aus Martinique stammende, hier jedoch aus der Zukunft angereiste Frantz Fanon, der 1961 »Die Verdammten dieser Erde« schreiben wird und darin ein mögliches Motto für die Reise der Flüchtenden 1941 und heute formuliert: »Verlassen wir dieses Europa, das nicht aufhört, vom Menschen zu reden, und ihn dabei niedermetzelt, wo es ihn trifft, an allen Ecken seiner eigenen Straßen, an allen Ecken der Welt.«
Charon bedient sich in seinem Redefluss einiger Gedanken aus Bretons Manifesten des Surrealismus, Wilfredo Lams Afro-Kubismus, der Poesie von Léon-Gontran Damas, der Schriften von Senghor, Suzanne Césaire und Paulette Nardal sowie immer wieder Brechts Gedichten aus den 30er Jahren. Das hört sich sehr trocken an, wird aber in Kentridges bunter, mitunter Vaudeville-artiger, herrlich verspielter Theaterwelt äußerst sinnlich dargeboten. Ruft Charon einen Namen auf, tanzt der oder die jeweilige Performer*in mit einem entsprechenden Pappschild vor dem Gesicht über die Planken des Schiffs. Mitunter erleben wir auch nur Kentridges berühmte Kaffeekannen, denn nicht alle Personen sind Persönlichkeiten, besonders weiße Männer in Anzügen mögen zwar Handelnde des realen Lebens sein, sind aber letztlich doch nicht mehr als Charaktermasken: Kaffeegeschirr eben.
»But with a little Schnapps you can forget the world«, witzelt der Kapitän. Die Bordkapelle spielt dazu, nearer, my Charon, to thee: vier Alleskönner*innen an Cello (Marika Hughes), Akkordeon und Banjo (Liam Robinson), Klavier (Dana Lyn) unter der Leitung von Tiale Makhene (Perkussion). Der Soundtrack ist verrückt: Da tanzen Joséphine Bonaparte, die aus Martinique stammende Ehefrau Napoleons, und Josephine Baker gemeinsam zu einem transatlantischen Duett, oder Kaffeetassen, Kannen, Tortenstücke und Besteck bewegen sich im fantastischen Bühnenhintergrund auf einer Leinwand zu einer französischen Musette, es sind karibische Rhythmen ebenso zu hören wie afroamerikanische Sounds, Jazzklavier und in Fetzen zerlegte klassische europäische Musik. Die Welt ist aus den Fugen geraten, die Protagonisten bewegen sich im »Black Atlantic« auf schwankendem Boden: »Now the House of Justice has collapsed. There has been wrong done – I ask for right« aus der »Orestie« ist auf den Zahnrädern im Hintergrund zu lesen und Anna Achmatowas Zeile »Warum ist dieses Zeitalter schlimmer als andere?«.
Im Zentrum aber steht, ganz wie im antiken griechischen Schauspiel, ein siebenköpfiger Frauenchor, der die Geschehnisse auf der Bühne analysiert und kommentiert oder mit kraftvollen Gesängen voranbringt. Dieser Chor repräsentiert die Migrant*innen, die die Fahrt über das Meer überlebt haben – und die darauf bestehen, dass wir uns an jene erinnern, die es nicht geschafft haben. »Die Welt hat ein Leck / Die Toten melden sich zum Dienst / Die Frauen sammeln die Scherben auf«, dichtet Kentridge.
Es geschehen musikalische Wunder.
Wie in Aischylos »Persern« besteht dieser afrikanische Frauenchor darauf, dass alle Verlorenen tatsächlich aufgezählt und benannt werden – sie alle nämlich »füllen den Hades«. Der Chor der sieben Frauen tritt immer wieder auf, nach der Reise, nach dem Krieg, nach dem Sturm, nach der Party, nach dem Verfall – »um die Scherben aufzusammeln und mit dem Wiederaufbau zu beginnen. Ein Aufzeigen der Möglichkeiten nach der Zerstörung«, wie Chor-Komponist und Ko-Regisseur Nhlanhia Mahlangu und Dramaturgin Mwenya Kabwe im Programmheft schreiben.
Dabei geschehen musikalische Wunder. Der Chor singt seine Passagen in isiZulu, isiXhosa, Setswana, siSwati und Xitsonga, also in den verschiedenen Sprachen der herausragenden Sängerinnen, deren Namen hier unbedingt genannt werden sollen: Anathi Conjwa, Asanda Hanabe, Zandile Hlatshwayo, Khokho Madlala, Nokuthula Magubane, Mapule Moloi und Nomathamsanqq Ngoma. Sie stimmen afrikanische Traumgesänge an in einem Stil, wie man ihn von Gesangsensembles aus Südafrika oder Mosambik kennt. Mal erzählen sie solistisch oder in unterschiedlichen Kombinationen in der Art westafrikanischer Griots, um dann tief berührende Klagegesänge anzustimmen. In einer hinreißenden (und hintergründigen) Szene lehnt Lenin am Klavier und Trotzki tanzt in einem Rüschenkleid, während der Chor der sieben Frauen in einem afrikanischen Dialekt die Internationale singt: »Wacht auf, Verdammte dieser Erde … Uns aus dem Elend zu erlösen / können wir nur selber tun!« Dann verdrängt Stalin den tanzenden Trotzki, und die Schiffskapelle lässt die Musik in Dissonanzen ausrutschen.
»Der Chor macht die großen Ungleichheiten der Welt und das wunderbare Potenzial neuer Erkenntnisse sichtbar« (Mahlangu/Kabwe). Was würde man dafür geben, diese berührenden, magischen Gesänge auf einem Album nachhören zu können! Und überhaupt würde man das fulminante, vielschichtige Stück am liebsten gleich noch einmal sehen, um mehr von all den gewitzten und tiefsinnigen Anspielungen und Hintergründen zu erkunden.
Nicht zuletzt durch den Chor wird die Tragödie, die Kentridges komplexes Kammeroperngebilde zweifelsohne auch ist, zu einem »spezifisch Schönen, in dem sich die Demokratie (und schon ihre Vorgeschichte) abstützt«, wie es Christian Meier einmal formuliert hat. Und das Götterfest, das uns William Kentridge in seinem opulent schillernden Welttheater so kunstvoll beschert, wird zu einem »notwendigen Widerlager des Alltäglichen«, zu einer Vision eines anderen Lebens. »There is a new wind blowing now«, sagt Charon. Ob sich dieser Wind zu einem Sturm ausweiten wird?
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1194959.william-kentridge-verlassen-wir-dieses-europa.html