Joy Williams versteht keinen Spaß. Es ist nicht so, dass sie erst in den Keller gehen muss, um einen Witz zu machen. Man hat eher den Eindruck, dass sie die ganze Zeit dort hockt und nur gelegentlich mal eine bitter-sarkastische Pointe nach oben ruft, die einem kalt in die Gebeine fährt.
In »Kram« geht der alternde Kolumnist Henry zum Arzt und bekommt die Diagnose Lungenkrebs. Es ist kein Wunder, er raucht, um schreiben zu können. Zigaretten sind seine »Arbeitsstängel«. Doch dann stellt sich heraus, dass es eine Verwechslung der Krankenakten gegeben hat. Der Arzt entschuldigt sich vielmals für den Schreck, den er Henry eingejagt hat. Doch auch der zweite, der wahre Befund zeigt Lungenkrebs, nur in einem weiter fortgeschrittenen Stadium. Hier haben wir ein typisches Beispiel für Joy-Williams-Komik. Sie hat nichts Befreiendes, mit ihr lässt sich das Verhängnis des Lebens eben nicht für einen Moment im Lachen aufheben, sie forciert den tragischen Komplex noch. Bei ihr wird der Witz zum Impulsgeber des Mitleids. Weil das Fatum seine Späße mit Henry macht, rührt uns sogar dieser selbstgerechte, untalentierte, vorgestrige Provinzschreiber.
Die Erzählung enthält aber auch eine religionsphilosophische, ja kosmologische Begründung, warum hier alles so schwarz angemalt ist, sogar der Humor. Henry besucht seine Mutter im Altenheim (was so gut wie nie vorkommt), um sie von seiner Krankheit in Kenntnis zu setzen. Sie zeigt keinerlei mütterliche Empathie, sondern skizziert ihm stattdessen die Anfangsgründe der Gnosis, um ihn anschließend brüsk vor die Tür zu setzen.
Bei den Gnostikern ist Gott gleichzusetzen mit dem Geist. Irgendwann hat sich jedoch eine niedere Gottheit, der Demiurg, aufgeschwungen und den Geist mit der bösen Materie verunreinigt. In immer neuen Emanationen entsteht irgendwann die materielle, also zutiefst böse Welt – und der Mensch, der in ihr, obwohl er noch Schwundstufen des göttlichen Geistes in sich trägt, auf nichts Gutes hoffen darf.
Um das Grauen auszuhalten, wird hier viel getrunken.
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Die alte Frau kennt die moralphilosophischen Schwächen dieser Weltanschauung. »Manche kritisieren den Gnostizismus als unausgegoren, als eine individualistische, nihilistische, eskapistische Religion, aus der keine wahrhaft moralische Gemeinschaft erwachsen könne, aber selbstverständlich sehen wir das anders.« Allerdings verhält sie sich entsprechend dieser moralfreien Religion, erniedrigt und quält ihren Sohn. Ein Mensch, dessen einzige Hoffnung es sein kann, endlich seine materielle Hülle abzuwerfen, um wieder eins zu werden mit dem göttlichen Geist, braucht sich um eine Verbesserung der materiellen Welt nicht groß zu kümmern. Möglicherweise hat man hier so etwas wie das weltanschauliche Fundament der Williams’schen Erzählwelt. Zumindest wäre so die grundsätzliche Hoffnungslosigkeit in diesen Kurzgeschichten zu erklären.
In »Ehrengast« leben die krebskranke Lenore und ihre Tochter Helen in einer fatalen Symbiose. Beide sind überfordert vom Siechtum der Mutter, sie machen sich gegenseitig unglücklich, auch weil der Tod schon viel zu lange auf sich warten lässt. Irgendwann schickt Lenore ihre Tochter zum Haareschneiden, und die Friseurin erzählt ihr von einem Brauch eines indigenen Volkes in Japan, das ihre Situation – und die Conditio humana – symbolisch auf den Punkt bringt.
»Am Ende jedes Winters fingen sie ein Bärenjunges und gaben es einer Frau zum Stillen. Hui, das ist doch mal was! Nachdem das Junge abgestillt war, gab man ihm köstliches Essen und streichelte es und spielte mit ihm. Mal abgesehen davon, dass es in einem Käfig lebte, wurde es behandelt wie ein Ehrengast. Doch irgendwann kam immer der Tag, an dem der Anführer des Dorfs auftauchte und dem Bären schweren Herzens mitteilte, dass sie ihn, obwohl sie ihn innig liebten, töten mussten. Das war eine lange Ansprache, dieser Teil. Dann zerrten sie den Bären mit Seilen aus seinem Käfig, banden ihn an einen Pfahl, schossen stumpfe Pfeile auf ihn, die ihn nur quälten, aber nicht töteten, und klemmten seinen Hals zwischen zwei Stangen, sodass er langsam erstickte, wonach er gehäutet und enthauptet wurde. Dem abgetrennten Kopf des Bären wurde dann sein eigenes Fleisch dargereicht.« Schließlich fragt die Friseurin Helen. »Was glaubst du – meinst du, die wussten, was sie da taten?« Aus der Perspektive einer Gnostikerin ganz sicher.
In »Gefährlich« zieht eine Frau aus Kummer über den Tod ihres Mannes in die Berge und baut ein Schildkrötengehege, das sie nach mühevoller Fertigstellung wieder einreißen muss, weil sie die Grenzen zum Nachbargrundstück nicht beachtet hat. Ihre Tochter, die Erzählerin, besucht sie selten, zieht sich in ein White-Trash-Refugium zurück und wartet trinkend auf Veränderung, die nicht eintreten wird.
Auch hier spiegelt eine Binnenfiktion parabelhaft die Sinnlosigkeit dieser beiden Existenzen. »Seit ich laufen kann, bis ich vierzehn wurde und mich weigerte, länger mitzumachen, filmte mein Vater mich jedes Jahr an meinem Geburtstag mit der Videokamera dabei, wie ich einen riesigen Orgelpfeifenkaktus im städtischen Botanischen Garten umrundete … Mein Vater schnitt die Aufnahmen zusammen und beschleunigte sie, sodass ich meine Runde begann, für einen Moment hinter dem Kaktus verschwand und dann um ein Jahr älter wieder hervortrat, immer noch ein Jahr älter, größer und gewöhnlicher. Ich begann als ein hüpfendes, lächelndes Geschöpf und verwandelte mich nach und nach in ein schlurfendes, schlecht gelauntes. Und doch schien meinen Eltern das existenzielle Grauen ihres kleinen Filmchens nicht bewusst zu sein.«
Um das »existenzielle Grauen« irgendwie auszuhalten, das alle Stories auf die eine oder andere Weise unterfüttert, wird darin viel getrunken. Die Protagonisten haben keinen Spaß am Alkohol, sie betäuben ausschließlich ihre Schmerzen. Und der stete Missbrauch zieht auch ihre Wahrnehmungsfähigkeit in Mitleidenschaft. Es ist ein merkwürdig abgründiges, bisweilen fast schon albtraumartiges Bild, das sie von der Realität zeichnen. Aber das muss auch nicht allein am Alkohol liegen.
Joy Williams: Stories 2. A. d. Engl. v. Julia Wolf. dtv, 318 S., geb., 26 €.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1194976.literatur-mein-leben-als-kaktus.html