Wenn sich die EU-Staats- und Regierungschefs zum Gipfel treffen, bedeutet das für den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj kurze Wohlfühlmomente im seit dreieinhalb Jahren andauernden Krieg in seinem Land. So lief es auch dieses Mal, zumindest größtenteils. Neben vielen Solidaritätsbekundungen, Absichtserklärungen und neuen Sanktionen, die nun endlich mal den Kreml in die Knie zwingen sollen, hoffte Selenskyj, die russischen Staatsgelder einstreichen zu können, die ihm schon länger als »Reparationskredit« vollmundig versprochen wurden. Daraus wird erst mal nichts.
Aus Kiewer Sicht war der jüngste EU-Gipfel einer für die Tonne. Belgiens Widerstand verhinderte, dass die EU den Klau eingefrorener russischer Gelder in Höhe von 140 Milliarden Euro nicht durchboxen konnte, und das, obwohl man schon lange davon träumt. Das europäische Staatenbündnis muss die Gelder für seine Ukraine-Solidarität weiter in den Haushalten der Mitgliedsländer suchen. Zumal die Zinserträge, die Brüssel bereits abschöpft, laut Euroclear in den ersten drei Quartalen dieses Jahres gegenüber 2024 um 25 Prozent auf 3,9 Milliarden Euro eingebrochen sind. Für Selenskyj, der bereits gefordert hatte, die Gelder nach seinem Gusto einzusetzen, ist das ein schwerer Schlag.
Für das kommende Jahr hat die ukrainische Regierung 120 Milliarden US-Dollar an Hilfen in Form von Geld und Waffen vom Westen eingefordert. Nachdem Trump weitere Hilfe vorerst verweigert hat, müssen die Europäer für diese Summe aufkommen. Und das in einer Zeit, in der es den meisten Staaten wirtschaftlich nicht unbedingt gut geht. Deshalb der versuchte Griff nach den russischen Konten.
Schon im Vorfeld des Gipfels hatte es Streit im europäischen Lager über die Verwendung der Gelder gegeben. Während eine Gruppe um Deutschland und andere westeuropäische Staaten Russlands Gelder ausschließlich für den Kauf europäischer Waffen für die Ukraine ausgeben wollten, sprachen sich vor allem die Ost-und Nordeuropäer dafür aus, Kiew doch entscheiden zu lassen, wo es einkaufen möchte, und seien es die USA. Auch Selenskyj wollte mit dem Geld machen, was ihm vorschwebt. Unter anderem sollten die Gehälter der Soldaten massiv angehoben werden, damit sich doch noch jemand findet, der sich als Kanonenfutter zur Verfügung stellt und den man nicht brutal von der Straße entführen muss.
Dazu kommt es erst mal nicht, Belgien hat den Geldklau mit seinem Veto verhindert. Denn trotz aller großspurigen Ansagen, die vor allem deutsche Politiker gerne von sich geben: Der Schritt ist risikobehaftet, davor warnen Juristen und Experten bereits, seitdem die Idee in Brüssel das erste Mal aufkam.
Juristisch ist überhaupt nicht sicher, dass die EU einfach Freibeuter spielen darf, auch weil die genaue Herkunft des Geldes zunächst nachgewiesen werden muss. Zudem sind die politischen und wirtschaftlichen Folgen nicht absehbar. Das habe ihn zu seinem Nein bewogen, begründet Belgiens Ministerpräsident Bart De Wever. Er will zumindest erreichen, dass das Risiko von allen EU-Staaten getragen wird. Anders als vielleicht in manchen Regierungen angenommen, habe Moskau das Geld nicht abgeschrieben. Raubt man dies einfach, würde man sich sehr lange Zeit vor Gericht streiten müssen.
Zudem könnte Moskau europäische Aktiva in Russland beschlagnahmen, allein auf Deutschland entfallen gut 100 Milliarden Euro, rechnet Matthias Schlepp vor, Chef der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer in Moskau. »Deutschland hat wie kein anderes Land in Russland investiert. Es hat deshalb bei der geplanten Nutzbarmachung russischer Zentralbankgelder für Waffenkäufe zugunsten der Ukraine am meisten zu verlieren«, zitiert ihn die Tagesschau.
Nicht zuletzt steht Europas Ruf auf dem Spiel, auch davor wird seit den ersten Gedankenspielen gewarnt. Der Geldklau wäre ein Signal an alle ausländischen Regierungen, dass ihr Vermögen in Europa nicht sicher ist. In der Folge könnte viel Geld vom Kontinent abgezogen werden.
Die Entscheidung über den Klau des russischen Geldes ist erst einmal bis Dezember verschoben. Wobei nicht sicher ist, dass Brüssel dann zugreifen kann. Für die Ukraine bedeutet das, mit weniger Geld auszukommen, da die einzelnen EU-Länder nicht tiefer in die eigenen Taschen greifen wollen und Selenskyjs Regierung ebenso wenig gegen die grassierende Korruption im Land vorgehen will, was dem Staat eine erhebliche Summe sparen könnte.
Die Ukraine wird den Kauf und Bau von Drohnen und anderen Waffen einschränken müssen, Ausgaben kürzen und ihre Währung Hrywnja abwerten müssen, was die Inflation antreiben wird, prognostiziert das Nachrichtenportal Strana. Deshalb könnte Kiew den Versuch unternehmen, erneut Hilfe aus Washington zu bekommen, die US-Prädident Donald Trump eingestellt hatte.
Ein bisschen Hilfe (jedoch nicht die, die Selenskyj vorschwebt) versprach Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche am Freitag bei ihrem Besuch in Kiew. Die CDU-Politikerin nannte insbesondere den Wiederaufbau zerstörter Energieinfrastruktur als Aufgabe. »Wir konnten (…) 1,3 Millionen Ukrainern Zugang zu Energie und Wärme verschaffen. Das müssen wir aber in diesem Winter verstärken«, sagte Reiche am Freitag nach ihrer Ankunft. Die Ministerin kündigte die Einrichtung einer Taskforce zum Wiederaufbau der ukrainischen Energieinfrastruktur an. Passend dazu hatte sie Vertreter deutscher Unternehmen in der Delegation.
Auch im Rüstungsbereich strebt Reiche eine engere Kooperation an, ohne sich zu Details zu äußern. Größere Hoffnungen dürfte Selenskyj da auf die »Koalition der Willigen« rund um Großbritannien setzen. Vor dem Treffen am Freitag hatte der britische Premierminister Keir Starmer dazu aufgerufen, mehr Waffen mit großer Reichweite an Kiew zu liefern. Die Ukraine müsse angesichts des nahenden Winters in die bestmögliche Position gebracht werden, erklärte Starmers Büro.
Wer aber für die Ukraine kämpfen soll, wird zu einem Satz mit einem immer größer werdenden Fragezeichen. Die ukrainische Armee halte die Front mit allerletzter Kraft. Weil Nachschub an Soldaten fehlt, seien die Verteidigungslinien erschöpft. »Die Front rückt schnell vor, platzt aus allen Nähten, wird druchbrochen«, schreibt die bekannte Militär-Freiwillige Maria Berlinska auf Telegram. Sollte die russische Armee weiter so vorrücken, seien Gebietshauptstädte wie Dnipro, Saporischschja, Charkiw und Sumy in ernster Gefahr, warnt Berlinska.
Neben teilweise irrsinnigen, aus Kiew angeordneten Festungskämpfen hat die Ukraine ein großes Problem mit der Fahnenflucht. Aus Gerichtsunterlagen geht hervor, dass die Zahl derjenigen, die sich von der Armee entfernen, Rekordniveau erreichte. Auch der Widerstand in der Bevölkerung gegen die brutalen Methoden der Mobilisierer der Rekrutierungsbehörde TZK, über die die Politik gerne hinwegsieht, wird immer stärker und organisierter. Nun bezeichnete der Parlamentsabgeordnete Mykyta Poturajew entsprechende Videos, die für Empörung sorgen, als KI-Fake. Zumeist aber müssen die TZK ihre Brutalität später eingestehen. Erst am Freitag wurde der Tod eines 43-Jährigen bekannt, der nach einer Schädelverletzung starb. Für November wird die größte Mobilisierungswelle seit Kriegsbeginn erwartet, mit unabsehbaren Folgen.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1195002.ukraine-krieg-selenskyjs-milliardensuche.html