nd-aktuell.de / 30.10.2025 / Wissen

Herausfordernde Hinterlassenschaft

Es gibt es neue Hoffnung für das Georg-Lukács-Archiv in Budapest und das Erbe des marxistischen Philosophen

Rüdiger Dannemann
Hat noch ein großes Werk vor sich: Der junge Georg Lukács, 1913
Hat noch ein großes Werk vor sich: Der junge Georg Lukács, 1913

Georg Lukács starb 1971. Im selben Jahr wurde das Archiv des ungarischen Philosophen und Begründers des westlichen Marxismus in seiner Wohnung in Budapest etabliert. Über Jahrzehnte diente es als Zugang und Ressource zu seinem Werk und damit zu Grundfragen marxistischer Theorie. Seit über 2700 Tagen ist diese Institution inzwischen geschlossen. Der Niedergang begann mit dem Regierungswechsel in Ungarn im Jahr 2010. Ein Jahr später schrieben japanische Wissenschaftler in einer »Erklärung aus Anlass der krisenhaften Lage in Ungarn« nach dem erneuten Sieg Viktor Orbáns: »Unsere Sorge gilt auch der Zukunft des Lukács-Archivs.« Sie forderten dessen Erhaltung »und den Schutz seiner unabhängigen wissenschaftlichen Tätigkeit«.

Als im gleichen Jahr die Internationale Georg-Lukács-Gesellschaft (IGLG) eine dringliche Anfrage publik machte, die sich gegen bereits damals zu beobachtende Maßnahmen – Betroffene sprachen von einem »Amoklauf« – gegen das Archiv und seine Mitarbeiter richtete, war die Solidarisierung groß. Wissenschaftler und Autoren aus aller Welt, darunter Iring Fetscher, Timothy Hall, Wolfgang Fritz Haug, Axel Honneth, Michael Löwy, Oskar Negt, Nicolas Tertulian und Michael J. Thompson, wandten sich an den damaligen Leiter des Archivs und den Präsidenten der Ungarischen Akademie der Wissenschaften mit der »Bitte um Klarstellung und Rücknahme aller einschränkenden Maßnahmen«.

Gutes Ende ausgeschlossen

Die Proteste der internationalen Scientific Community wirkten verzögernd, blieben aber letztlich erfolglos. Ermutigt durch die internationale Protestwelle, wurde 2016 in Budapest die Internationale Stiftung Lukács-Archiv (LANA) von Universitätsprofessoren, Redakteuren der Zeitschrift »Eszmélet« und früheren Mitarbeitern des Lukács-Archivs gegründet. Die Stiftung war eine Antwort darauf, dass sich die Ungarische Akademie der Wissenschaften für die Eliminierung des Archivs entschieden hatte.

In Lukács’ Wohnung bat Rudi Dutschke während der Studentenrevolte den alten Revolutionär um Ratschläge.

Dennoch wurde im Mai 2018 das Archiv de facto geschlossen, Lukács’ bedeutender Nachlass wurde abtransportiert, was einen noch größeren internationalen Proteststurm provozierte – selbst die »FAZ« berichtete darüber. Etwa zur gleichen Zeit wurde das Lukács-Denkmal im Szent-István-Park demontiert. Die Zeichen häuften sich, dass auch die in Lukács’ Wohnung an der Donau verbliebene Bibliothek des Philosophen ausgelagert und damit das Ende des Archivs definitiv besiegelt werden würde, zumal sich der Zustand des praktisch ungenutzten Archivs wahrnehmbar verschlechterte.

Im Dezember 2024 intervenierten Franck Fischbach (Sorbonne) und andere französische Kollegen und Kolleginnen gegen den bevorstehenden Verkauf der geschichtsträchtigen Wohnung, in der Lukács einst mit Agnes Heller und den anderen Mitgliedern der Budapester Schule diskutiert hatte. Rudi Dutschke bat hier während der Studentenrevolte den alten Revolutionär um Ratschläge. Ein glückliches Ende schien ausgeschlossen.

Doch noch Hoffnung

Nun gibt es tatsächlich positive Entwicklungen im Fall des Lukács-Archivs in Budapest. Nach bitteren Jahren der Schließung und des Niedergangs kann das Archiv voraussichtlich in einem neuen institutionellen Rahmen weiterarbeiten, nämlich unter der Verwaltung des Budapester Stadtarchivs. Die grün-linke Stadtregierung will die Lukács-Wohnung, in der sich das Archiv befindet, von der Ungarischen Akademie der Wissenschaften beziehungsweise deren Bibliothek übernehmen. Dafür wurde das Recht auf Anmietung der Wohnung erworben. Das Ziel der Hauptstadt ist es, die Wohnung Belgrád Rakpart 2 zu renovieren und sie für die wissenschaftliche Öffentlichkeit wieder zugänglich zu machen, damit das Erbe von Lukács und seinen Schülern bewahrt werden kann.

Dass das Archiv der Stadt Budapest die Wohnung von György Lukács übernommen hat, ist eine gute Nachricht für die internationale Scientific Community, die lange gegen die Schließung des Archivs in Victor Orbáns Ungarn protestiert hatte. Es gibt aber bei aller Freude einen Wermutstropfen: Dem Stadtarchiv ist es zwar gelungen, Lukács’ Bibliothek von der Akademie zu erwerben, doch leider verbleiben Lukács’ Dokumente, also seine Manuskripte, Briefe oder Fotos, in der Bibliothek der Akademie. Auch sonst bleibt noch viel zu tun. Die für 2026 vorgesehene Renovierung der Wohnung Lukács’ wird für die von Orbán ungeliebte, finanziell schlecht ausgestattete Stadt Budapest ein Kraftakt werden.

Wie László Gergely Szücs vom Stadtarchiv betont, soll zunächst Lukács’ Arbeitszimmer renoviert für Besucher geöffnet werden; in den anderen Teilen des Apartments sollen Programme, Universitätsseminare, Debatten, Buchvorstellungen und Ausstellungen zu Lukács und zur Budapester Schule stattfinden. Eine Eröffnung als Forschungszentrum mit einem eigenen Mitarbeiterstab steht vorerst noch nicht auf der Tagesordnung, aber sowohl die LANA als auch das Stadtarchiv setzen sich dafür ein, Schritte in Richtung eines Betriebs als Forschungszentrum zu unternehmen.

Auch wenn Miklós Mesterházi, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Archivs von 1978 bis 2015 und Mitglied des LANA-Kuratoriums, angesichts der Schwierigkeiten nicht uneingeschränkt von einem Happy End sprechen möchte, betrachtet er die Perspektive mit einigem Optimismus. Die nun beschlossene institutionelle Konstruktion verspreche »nach langer Zeit die würdige Bewahrung und Erforschbarkeit des geistigen Erbes des weltberühmten Philosophen«. Denn die Lukács-Wohnung am Donauufer soll als Ergänzung des aktuellen »Budapester Schulprojekts« ein Zentrum für wissenschaftliche Workshops zu Lukács und seiner Schule werden.

Szücs, der zugleich Leiter des im Aufbau befindlichen Archivs der Budapester Schule ist, sieht zudem Chancen für eine internationale Konferenz über die Budapester Schule im Jahr 2027. Teil und ein Ort dieser Konferenz mit Symbolwert könnte dann, wie Szücs hofft, das wiederauferstehende Lukács-Archiv sein – ob es Orbán passt oder nicht.

Erinnerungen bewahren

Positive Signale der Lukács-Rezeption kamen dieser Tage auch aus Heidelberg. Am 21. Oktober beging man in der Stadt, in der der junge Lukács zusammen mit Ernst Bloch im Max-Weber-Kreis für Aufsehen gesorgt und seinen Klassiker »Die Theorie des Romans« geschrieben hatte, einen Georg-Lukács-Tag. Dieser wurde unterstützt von der Graduiertenschule für Geistes- und Sozialwissenschaften, der Fachschaft Philosophie, dem Doktorandenkonvent sowie vom städtischen Kulturamt. Die Initiative zu diesem Ereignis hatte Hassan Maarfi Poor ergriffen, ein Doktorand mit kurdisch-iranischem Background.

Axel Honneth, Sozialphilosoph der dritten Generation der Kritischen Theorie, stellte in einem Grußwort anlässlich der Enthüllung einer Gedenkplakette an einem Wohnort Lukács’ in Heidelberg die Bedeutung des Anlasses heraus. Man müsse der Stadt Heidelberg dankbar sein, dass sie angesichts der Angriffe auf das Erbe Lukács’ in Ungarn an dessen Aufenthalt und Wirken erinnere. »Hier hat der junge Student in ständigem Austausch mit Max Weber seine nachdrücklichsten theoretischen Eindrücke gesammelt, hier hat er den philosophischen Grundstein für sein späteres Werk gelegt. Seien wir froh, dass es in Deutschland noch möglich ist, die herausfordernde Hinterlassenschaft eines widerspenstigen Geistes in Erinnerung zu bewahren.« Dem ist nichts hinzuzufügen.