Geht es nach Wolodymyr Selenskyj, wird die Ukraine schon gestern statt morgen Mitglied der Europäischen Union. Wie auch seine Amtskollegin Maia Sandu in Moldau[1] versteht sich der ukrainische Präsident als Garant für eine »europäische« Zukunft seines Landes. Schon jetzt darf er an den meisten EU-Gipfeln teilnehmen. Und in schöner Regelmäßigkeit fordert Selenskyj lautstark den Beitritt der Ukraine.
Auch vor der Veröffentlichung des jährlichen Berichts über die Fortschritte bei der EU-Erweiterung sagte Selenskyj, es gebe »allen Grund«, ein »positives Ergebnis« aus Brüssel bezüglich des Kiewer Wegs in die EU zu erwarten. Nach der Veröffentlichung am Dienstag fühlte sich Selenskyj bestätigt. »Das ist das bisher beste Bewertungsergebnis – ein Beweis dafür, dass die Ukraine selbst während der Abwehr der umfassenden Aggression Russlands ihre Reformen fortsetzt und sich im Einklang mit den europäischen Standards verändert«, freute sich der Politiker auf seinem Telegram-Kanal und ließ Staatsmedien die frohe Kunde verbreiten.
Wie so oft aber erzählte Selenskyj nur die halbe Wahrheit. Tatsächlich konstatierte Brüssel eine »bemerkenswerte Hingabe« der Ukraine zum EU-Beitrittsprozess. Das Land habe trotz des Krieges sein »Bekenntnis zum EU-Kurs unter Beweis gestellt und wichtige Reformen vorangetrieben«, sagte die zuständige Kommissarin Marta Kos bei der Vorstellung des Berichts. Sehr viel mehr Honig wurde Selenskyj aber nicht ums Maul geschmiert. Es werde »von entscheidender Bedeutung sein, diese Dynamik aufrechtzuerhalten und jegliches Risiko eines Rückschritts zu vermeiden«, betonte Kos.
Brüssel erwartet von Kiew ein höheres Reformtempo, um die selbstgesteckten Ziele für die EU-Aufnahme zu erreichen. Jüngste negative Entwicklungen müssten allerdings entschieden rückgängig gemacht werden – so etwa der zunehmende Druck auf Antikorruptionsbehörden[2] und die Zivilgesellschaft. Zudem mahnen die Autoren des Berichts an, die Angleichung an EU-Standards beim Schutz der Grundrechte sowie Verwaltungs- und Dezentralisierungsreformen voranzutreiben[3]. Zuletzt sorgte die Absetzung des Odessaer Bürgermeisters Hennadij Truchanow[4] für Aufsehen. Selenskyj hatte ihn unter fadenscheinigen Begründungen abgesetzt und gleichzeitig die lokale Selbstverwaltung der Schwarzmeerstadt beendet. Statt des beliebten Bürgermeisters setzte Selenskyj eine linientreue und ihm unterstellte Militäradministration ein.
Der EU-Bericht fordert zudem weitere Fortschritte, um Unabhängigkeit, Integrität, Professionalität und Effizienz in Justiz, Staatsanwaltschaft und Strafverfolgung zu stärken sowie organisierte Kriminalität intensiver zu bekämpfen. Tatsächlich gibt es immer wieder Vorwürfe, dass die Ukraine (auch im Krieg) besser dastehen würde, wenn die Korruption im Land effektiver bekämpft würde. Allerdings, so vermuten viele Experten und Medien, profitiert vor allem Selenskyjs Umfeld davon.
Kritiker werfen Selenskyj zunehmend autoritäre Züge vor. Das zeigt sich unter anderem im Vorgehen gegen die unabhängigen Antikorruptionsbehörden. Wie zum Beweis durchsuchte der Inlandsgeheimdienst SBU in der Nacht zum Dienstag erneut ohne richterliche Anordnung einen Mitarbeiter der Antikorruptionsbehörde Nabu und wendete dabei Gewalt an.
Solche Aktionen bleiben in Brüssel nicht unbemerkt und schaden Kiews Beitrittsbestreben enorm. Noch geht man im Kreise Selenskyjs davon aus, Kandidat Nummer eins zu sein, vor Moldau, wo Sandu Brüssels Wünsche umsetzen soll. Wegen der Probleme in beiden Ländern (und ungeklärter Territorialfragen) und dem Widerstand mehrerer EU-Staaten gegen den Beitritt, wurde laut dem Portal Politico Ende Oktober eine Light-Variante ins Spiel gebracht: die Mitgliedschaft ohne Stimmrecht. Allerdings lehnten Kiew und Chisinău ab, ganz oder gar nicht, hieß es.
Für die Ukraine ist das zwar Bestätigung, dass Brüssel unbedingt den Beitritt will, aber auch ein Rückschritt für den eigenen Anspruch. Denn Kandidaten wie Albanien und Montenegro haben sich in den Augen der EU besser entwickelt und könnten auf eine schnellere Aufnahme hoffen als Kiew.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1195215.ukraine-eu-reform-rueffel-fuer-kiew.html