nd-aktuell.de / 04.11.2025 / Wirtschaft und Umwelt

Zwischen Utopie und Realität gefangen

Die »Aktionstage Gefängnis« machen auf die Situation hinter Gittern und mögliche Alternativen aufmerksam

Sarah Yolanda Koss
Während sich die Debatte in Wissenschaft und Forschung um Alternativen zu Haft dreht, geht es in der realpolitischen Debatte um mehr Überwachung und Strafe.
Während sich die Debatte in Wissenschaft und Forschung um Alternativen zu Haft dreht, geht es in der realpolitischen Debatte um mehr Überwachung und Strafe.

Die Rheinstadt, ein Ort in Nordrhein-Westfalen, startet ein Experiment: Inhaftierte sollen aus Gefängnissen entlassen werden, Arbeit, Wohnung und eine Therapie erhalten und sich so mit ihren Taten auseinandersetzen. Das Ziel: Resozialisierung, weniger Gewalt und ein System ohne Justizanstalten. Utopie für die einen, ein furchteinflößendes Konzept für die anderen.

Tatsächlich gibt es die Rheinstadt nicht. Aber der fiktive Ort in der Spielfilm-Serie »A better place« (deutsch: Ein besserer Ort) zeigt auf, dass Debatten über Abolitionismus, anders als noch vor einigen Jahren, inzwischen auch im öffentlich-rechtlichen Fernsehen angekommen sind[1]. Vertreter*innen des Abolitionismus stehen in der Tradition der Antisklavereibewegung. Sie fordern das Ende repressiver Strukturen wie Polizei und Gefängnisse sowie der ihnen zugrundeliegenden Ideologien und die Schaffung solidarischer Strukturen als Voraussetzung für eine gerechtere Gesellschaft.

Eine Vorführung und Diskussion von »A better place« in Bochum bildete den Auftakt der »Aktionstage Gefängnis«, die diese Woche bundesweit unter dem Motto »Ist eine Welt ohne Gefängnisse möglich?« stattfinden. Ein Bündnis aus Trägern der Straffälligenhilfe, Sozialverbänden und zivilgesellschaftlichen Vereinigungen will Vorurteile gegen straffällig gewordene Menschen entkräften, die Auswirkungen von Haftstrafen sichtbar machen und Arbeitsbedingungen hinter Gittern beschreiben und verbessern. Außerdem dienen die Tage dazu, so schreibt das Bündnis auf seiner Website, »die Debatte um die Funktion von Strafe und Gefängnis aus dem Fachleute-Kreis hinein[2] in die Gesellschaft zu tragen«.

Während das in den vergangenen Jahren gelungen scheint, entwickelt sich die Praxis in eine andere Richtung. Das Bündnis gründete sich 2017 nach dem französisch-belgischen Vorbild der »Journées Nationales Prison« (Antiknast-Tage). Sowohl in Frankreich als auch in Belgien und Deutschland stieg die Gefängnispopulation in den vergangenen Jahren dem französischen Informationsplattform »Prison Insider« zufolge beständig. Ebenso die Anhaltezeiten, also die Länge der Strafen.

Die französischen Untersuchungshaftanstalten waren zuletzt durchschnittlich zu 150 Prozent ausgelastet, manche zu über 200 Prozent. Diesen Sommer vermeldeten in Deutschland Baden-Württemberg und das Saarland eine über 90-prozentige Auslastung. In Rheinland-Pfalz gab es gar keine freien Plätze mehr, dafür Mehrfachbelegungen in den Räumen.[3] Kritische Kriminolog*innen wie Christine Graebsch[4], die im Bündnis der Aktionstage organisiert ist, gehen davon aus, dass mehr Investitionen in die Infrastruktur von Gefängnissen,wie Gebäude oder Personal zu einer Steigerung der Haftzahlen führen.

In Frankreich eröffnete diesen Sommer zudem die erste Justizvollzugsanstalt nach dem Vorbild US-amerikanischer Hochsicherheitsgefängnisse. Das bedeutet Einzelzellen, eine Stunde Hofgang pro Tag und Besuch nur hinter Glasscheiben mit folgenden Ganzkörperuntersuchungen. Striktere Haftbedingungen erschweren der Kritischen Kriminologie zufolge Resozialisierung, weil es Personen danach schwieriger fällt, in die Gesellschaft zurückzufinden. Freiere Haftformen, bei denen wie in der Rheinstadt der Fokus auf Resozialisierung liegt, gibt es bisher nur in Einzelfällen in Deutschland, vorrangig für jugendliche Straftäter*innen.

Was auf diese Praxis folgt, sollen die »Aktionstage Gefängnis« aufzeigen. Nach Informationsveranstaltungen zum Ehrenamt in Haftanstalten, Diskussionen zur Ersatzfreiheitsstrafe und Entkriminalisierung sowie Theaterabenden enden sie mit einer weiteren Vorführung zur fiktiven Rheinstadt am 11. November in Oldenburg.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1192034.abolitionismus-die-kriminalisierung-der-kottianer.html
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1184713.arbeitskampf-im-gefaengnis-gewerkschaft-in-ketten.html
  3. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1192893.justizvollzug-gefaengnisse-einfach-abschaffen.html
  4. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1193276.haft-resozialisierung-in-mohorn-abstufungen-der-freiheit.html