nd-aktuell.de / 04.11.2025 / Kultur

Widersprüchlichkeit an allen Ecken und Enden

Ein Autorenkollektiv um Frank Deppe und Erhard Crome diskutiert die Weltordnung im Umbruch

Irmtraud Gutschke
In Ost und West, in Nord wie Süd wünschen sich die Menschen Frieden.
In Ost und West, in Nord wie Süd wünschen sich die Menschen Frieden.

Glänzend! Wer verstehen will, was in der Welt vor sich geht, sollte dieses Buch lesen. Auf gerade mal 160 Seiten (plus neun Seiten Anmerkungen) wird eine beeindruckende, faktengestützte Analyse vorgelegt, sachlich und geradezu spannend. »Viele Köche verderben den Brei«? Das landläufige Sprichwort wird widerlegt. Peter Wahl, Erhard Crome, Frank Deppe und Michael Brie haben nicht lediglich ihre eigenen Kapitel beigetragen, zumindest ist das nicht mehr spürbar. Es ist tatsächlich ein »kollektiver Text«, wie es im Vorwort heißt. »In mehreren Videokonferenzen und in einer eintägigen physischen Redaktionssitzung wurden Entwürfe besprochen und dann wieder per Mail kommentiert.«

Durchgearbeitet wird alles immer wieder, im Inhaltlichen wie im Sprachlichen, was ja zusammenhängt. Wie viel Arbeit wohl darin steckt, bis eine solche präzise, plausible Einschätzung zustande kam! Diese wurde ja umso schwieriger, da sich vor unseren Augen Umbrüche vollziehen, die in ihrer Tendenz zwar durchschaubar sind, aber im Einzelnen auch Unvorhergesehenes bergen. Nehmen wir allein die Außenpolitik Donald Trumps, dessen »persönlichkeitsbedingter Stil … zwischen Megalomanie, Vernünftigem, Polit-Kitsch, Vulgarität, Facts und Fakes, Realismus und steilen Thesen schwankt. Widersprüchlichkeit an allen Ecken und Enden!« Aber bei all dem werden die USA eine »Supermacht« bleiben, wie die Autoren meinen und Einschätzungen widersprechen, bei denen eher der Wunsch Vater des Gedankens war.

»Aufgeklärter Realismus« als Methode: Die Vision einer friedlichen Welt vor Augen, ging es den Autoren erst einmal um nüchterne Analyse des Ist-Zustands, welche ja die Grundlage ist, um Strategie und Taktik linker Politik zu bestimmen. »Umbrüche im internationalen System verstehen« – schon dieses erste Kapitel ist eminent wichtig, weil wir uns eben noch lange nicht in jener »Weltgesellschaft« befinden, die wir uns wünschen würden. Auch wenn es einem nicht gefällt, »aus der Verfügung über Machtressourcen ergibt sich eine Hierarchie im internationalen System«, die einer Auseinandersetzung unterliegt. Ein internationalistischer Standpunkt, der Kriege zu vermeiden sowie internationale Zusammenarbeit auf staatlicher und nicht staatlicher Ebene zu fördern versucht, steht vor neuen Herausforderungen.

Immer wieder erhellend, wie diesbezüglich historische, ökonomische, geopolitische Zusammenhänge aufgerufen werden. Die weltgeschichtlich neue Rolle des Globalen Südens, Chinas Aufstieg zur Supermacht, der »geopolitische Niedergang des Westens« und »Russlands Renaissance als Großmacht« zeigen sich tatsächlich schon im jeweiligen Bruttosozialprodukt, besonders deutlich, wenn dieses nach Kaufkraftparität bewertet wird. Machtverschiebungen, die aber auch Grenzen haben und Gefahren bergen.

Der kriegstreibende Faktor des Kapitalismus ist nicht zu unterschätzen.

Da wird ausdrücklich vor jenem nationalen Hochmut gewarnt, der sich im Westen traditionell gegen alles Östliche richtet und derzeit verstärkt mit Militarisierung einhergeht. »Weltmachtstatus« für Deutschland, das inzwischen »Schlusslicht bei Wachstum« ist? Lachhaft, aber im Ernst: Der »kriegstreibende Faktor des Kapitalismus« ist nicht zu unterschätzen.

»Deutschland knüpft mit seiner ›Zeitenwende‹ an die verheerenden Traditionen seiner Geschichte an. Die neue Bundesregierung treibt die Hochrüstung voran, um so ihren Führungsanspruch auch militärisch zu untermauern.« Bei so manchen Mitgliedstaaten der EU dürfte das auf Widerstand stoßen. Und im Inneren des Landes werden mit »der Steigerung der Rüstungsausgaben, stagnierenden Reallöhnen, anhaltender Inflation und Mietsteigerungen, Beschäftigungsabbau in der Automobilindustrie und angesichts von gewaltigen Sparprogrammen – unter anderem im Bereich der Hochschulen – Kritik und Widerstand an Kraft gewinnen: einerseits bei den Gewerkschaften, andererseits bei den Parteien der politischen Linken.« Wobei zu befürchten ist, dass »die wachsende Unzufriedenheit in der Wahlbevölkerung« erst einmal »rechtsradikalen und rechtspopulistisch-nationalistischen« Kräften zugutekommt. Umso wichtiger, dass Linke sich auf ihre Kraft besinnen.

Dieser Band könne kein »Parteiprogramm« sein, heißt es im Vorwort. Doch bietet gerade das letzte Kapitel »Kontroversen in der Friedensbewegung« reichlich Diskussionsstoff: Was heißt Universalität der Menschenrechte? Gibt es einen »linken Bellizismus«? Welche Haltung kann man zu nationaler Souveränität, Selbstbestimmungsrecht und Separatismus haben? Schwierige Fragen, die die Autoren konkret zu fassen versuchen, wobei sie zugestehen, dass UN-Charta und Völkerrecht, die ja ein allgemeiner Maßstab sein sollen, oft nur so lange hochgehalten werden, »wie es in die eigenen Interessen« der jeweiligen Staaten passt.

Etwas, das nicht sein soll, aber so ist – wie soll man darüber sprechen? Nicht nur dem weit verbreiteten, aus Ohnmacht entstehenden Grollen verweigern sich die Autoren, sondern auch weitgehend dem Ton gerechter Empörung, mit der sich Menschen Luft machen, ohne an den Dingen etwas zu ändern. »Aufgeklärter Realismus« – wobei einem klar sein muss, dass wir Linken gerade auch aus Idealen Kraft schöpfen. Andererseits ist zu beobachten, wie mentale Militarisierung sich das Streben zum Guten zunutze macht. Umso mehr braucht es »Wissen und rationale Erkenntnis« als »Vorbedingung für mündige moralische Entscheidungen«.

Für eine Friedensbewegung auf der Höhe der Zeit bieten die Autoren viele Argumente und sind sich auch der »Macht der Gefühle« bewusst, welche »sich Friedenspolitik viel stärker zuwenden muss«, um »nicht nur die Köpfe, sondern auch die Herzen der Menschen« zu erreichen.

Peter Wahl/Erhard Crome/Frank Deppe/Michael Brie: Weltordnung im Umbruch. Krieg und Frieden in einer multipolaren Welt. Papyrossa, 171 S., br., 14,90 €.
Veranstaltungstipps: Konferenz »Zeitenwende ohne Ende. Weltordnungen zwischen Vorherrschaft und gemeinsamer Verantwortung«, u.a. mit Frank Deppe, Erhard Crome und Stefan Bollinger, 7. November, ab 15 Uhr, Helle Panke, Kopenhagener Str. 9, Berlin.
Buchvorstellung im Literatursalon mit Erhard Crome im FMP1, 26. November, 18 Uhr, Franz-Mehring-Platz 1, Berlin.